Mit kleinen Schritten zum großen Player
Während alle Welt auf Israels Militäreinsätze in Nordgaza und im Libanon blickt, bauen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hinter den Kulissen ihren Einfluss in Gaza aus. Abu Dhabi spielt eine zentrale Rolle in der Versorgung der palästinensischen Enklave mit Wasser und humanitärer Hilfe.
Ende August hatten VAE-Vertreter eine Absichtserklärung mit der Stadtverwaltung von Gaza-Stadt unterschrieben. Das Abkommen bereitete den Weg für die Wasserversorgung von weiten Teilen Nordgazas durch die VAE, inklusive Reparatur und Pflege der Infrastruktur. Auf diese Weise soll der Zugang zu Trinkwasser für die kriegsmüden Palästinenser*innen gewährleistet werden.
„Als Kommune schaffen wir es nicht, alle Bewohner*innen und Stadtgebiete mit Wasser zu versorgen. Diese Finanzierung wird es uns erleichtern, die Versorgung zu gewährleisten”, sagte Yahya al-Sarraj, Bürgermeister von Gaza-Stadt in einem Video, das nach der feierlichen Unterzeichnung der Erklärung aufgenommen wurde. „Wir hoffen, dass es mehr Projekte geben wird.”
Das Projekt ist Teil von Chivalrous Knight 3, einer im November 2023 ins Leben gerufenen humanitären Mission der VAE im Gazastreifen. Das Abkommen mit Gaza-Stadt folgte auf einen Deal über 54.000 US-Dollar vom Juli 2024 mit der südlich gelegenen Stadt Khan Younis. Dort fließt das Geld in die Reparatur von Brunnen und Wassertanks.
Die Vereinbarung mit Gaza-Stadt und die weiteren Chivalrous Knight-Projekte seien „Teil der positiven Bemühungen der VAE, auf praktischem Weg zu einem Ende des Krieges in Gaza beizutragen und den Palästinenser*innen zu helfen”, so Mohammed Khalfan al-Sawafi, Autor und politischer Analyst aus den VAE.
Ägypten unterstützt den wachsenden Einfluss der VAE in Gaza. In der Stadt Arish, in der Ägypten internationale Hilfsgüter für Gaza sammelt, haben die VAE ein schwimmendes Krankenhaus und eine gigantische Lagerhalle für humanitäre Hilfsgüter gebaut. Auf der ägyptischen Seite des Grenzübergangs Rafah haben die VAE zudem sechs Wasserentsalzungsanlagen installiert, mit denen sie Wasser nach Gaza pumpen und 600.000 Menschen versorgen können.
Bevor der Grenzübergang Rafah im Mai geschlossen wurde, hatte der Emiratische Rote Halbmond (ERC) die Erlaubnis, sich frei zwischen der Sinai-Halbinsel und Gaza zu bewegen, um im Gazastreifen ein Feldkrankenhaus der VAE zu betreiben und Unterkünfte für Vertriebene zu bauen. Auch die Notfallkampagne zur Polioimpfung im Gazastreifen unterstützten die VAE mit einer Spende von über fünf Millionen US-Dollar.
Keine Exitstrategie für Gaza
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Immer engere Beziehungen zu Israel
„Vor dem Krieg war Katar der Hauptakteur aus dem Golf in Gaza”, erklärt Nimrod Goren, Senior Fellow für israelische Angelegenheiten am Middle East Institute in Washington gegenüber Qantara. „Nun dürfte Israel eine größere Rolle der Emirate und eventuell sogar Saudi-Arabiens begrüßen.” So habe Israel grünes Licht für Hilfslieferungen der VAE nach Gaza gegeben, um aktuelles und zukünftiges Engagement der VAE in der Enklave zu ermöglichen.
Die Beziehungen zwischen den VAE und Israel haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, was den Boden für die heutige Präsenz der Emirate in Gaza bereitet hat. Im Rahmen der Abraham-Abkommen hatten die VAE gemeinsam mit Bahrain im September 2020 ein Normalisierungsabkommen mit Israel geschlossen. Seitdem haben sich die Beziehungen deutlich intensiviert.
Rakha Ahmed Hassan, ehemaliger Vize-Außenminister Ägyptens und Mitglied des Egyptian Council for Foreign Affairs (ECFA) sagte gegenüber Qantara, Abu Dhabi versuche nun, seine politischen Positionen auszutarieren: Seine wachsende Verbundenheit mit Israel will es durch Unterstützung und Hilfe für die Palästinenser*innen ausgleichen.
Hassan zufolge haben die VAE auch dabei geholfen, einen alternativen Landweg vom Persischen Golf via Saudi-Arabien und Jordanien bis nach Tel Aviv zu etablieren. Über diesen können nun Güter transportiert werden, die Israel normalerweise über den Golf von Aden und das Rote Meer erreichen würden. Der Seeweg wurde jedoch durch Angriffe der jemenitischen Huthi-Miliz blockiert.
Im Gegenzug haben sich die VAE gewisse Privilegien gesichert. Während die Ein- und Ausreise aus dem Gazastreifen seit der Schließung des Rafah-Grenzübergangs fast vollkommen unmöglich geworden ist, erlaubte Israel den VAE am 11. September, 97 Verwundete mit insgesamt 155 Familienmitgliedern aus Gaza nach Abu Dhabi zu bringen, um sie dort medizinisch zu behandeln.
Die Rolle Mohammed Dahlans in Gaza
Ihren Einfluss in Gaza verdanken die VAE vor allem dem ehemaligen hochrangigen Fatah-Politiker Mohammed Dahlan, der heute als Berater für den emiratischen Herrscher Mohammed bin Zayed Al Nahyan fungiert. Dahlan, der 1961 in Khan Younis im Gazastreifen geboren wurde, war bis zur Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007 Leiter des Palästinensischen Präventiven Sicherheitsdienstes (الأمن الوقائي الفلسطيني), einer Sicherheitsbehörde der Palästinensischen Autonomiebehörde in Gaza.
Nach seiner Ausweisung aus Gaza ließ er sich im Westjordanland nieder, zerstritt sich jedoch auch mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas: 2011 warf die Palästinensische Autonomiebehörde Dahlan Korruption und Verschwörung gegen Abbas’ Führungsanspruch vor. Seitdem lebt er im Exil in den VAE, wo er die Reformistische Demokratische Strömung (RDC, تيار الإصلاح الديمقراطي) leitet, eine politische Abspaltung der Fatah-Bewegung.
Trotz seines Exils pflegte Dahlan weiterhin enge Beziehungen zu einflussreichen Großfamilien in Gaza und nahm später auch erneut Kontakt zum Hamas-Führer Yahya Sinwar auf, der Anfang Oktober getötet wurde. 2013 und 2015 erhielt Dahlans Ehefrau von der Hamas die Erlaubnis, Gaza zu besuchen, und half bei der Organisation einer von den VAE finanzierten Massenhochzeit von 400 Frauen und Männern in Gaza.
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„Obwohl Mohammed Dahlan einer der entschiedensten Gegner der Hamas war, nahm er 2016 den Dialog mit der neuen, von Yahya Sinwar geführten Regierung auf, um die Blockade des palästinensischen Versöhnungsprozess zu überwinden”, erklärt Ayman al-Reqb, hochrangiges RDC-Mitglied gegenüber Qantara.
Im Verlauf der Annäherung an die Hamas bekam Dahlans Gruppe die Erlaubnis, eine Initiative mit dem Namen Takaful (Solidarität) aufzubauen, um den Menschen im Gazastreifen finanzielle Unterstützung aus den VAE zukommen zu lassen. So unterstützte Takaful Opfer aus dem Krieg zwischen der Hamas und der Fatah 2007, um den innerpalästinensischen Aussöhnungsprozess zu erleichtern. Die Organisation half auch beim Wiederaufbau beschädigter Häuser nach den Kämpfen zwischen der Hamas und Israel 2018 und 2021.
2023 wurden die Tätigkeiten von Takaful ausgebaut und die Organisation wurde zum Zentrum des Palästinensischen Nationalkomittees für Partnerschaft und Entwicklung (NCPD, اللجنة الوطنية للشراكة والتنمية), das von Mitgliedern acht verschiedener Fraktionen aus Gaza geführt wird, unter anderem der Hamas. Das NCPD unterschreibt heute im Namen der VAE die Verträge zum Wiederaufbau mit Kommunen in Gaza und organisiert VAE-Hilfsprojekte in Gaza.
Mohammed Dahlan habe seit Kriegsbeginn an Popularität im Gazastreifen gewonnen, erzählt Ramez al-Amsy aus Gaza-Stadt. „Er versorgt uns am besten mit Hilfe und während des Krieges hat er seine Unterstützung noch ausgebaut”, so al-Amsy, der heute als Vertriebener in Khan Younis lebt, im Gespräch mit Qantara über WhatsApp.
Dahlan als Bindeglied zwischen VAE und Hamas
Seit Kriegsausbruch im Oktober 2023 sind die Hamas und Dahlan in engem Kontakt geblieben. „Zum ersten Mal gab es ein Treffen zwischen Vertretern der Hamas und der RDC in Doha. Das war ein Durchbruch in vielerlei Hinsicht”, erklärt al-Reqb. „Wir [die RDC] lehnen es ab, Sicherheitsverantwortung in Gaza zu übernehmen, sind aber bereit, Teil politischer palästinensischer Absprachen zu sein, um den Gazastreifen wieder aufzubauen und am Ende einen palästinensischen Staat zu bekommen. Um das zu erreichen, brauchen wir Dahlans Beziehungen.” In anderen Worten: RDC braucht die Vereinigten Arabischen Emirate.
Die VAE profitieren ebenfalls von Dahlans Beziehungen und versuchen, die Gräben zwischen der Hamas und RDC durch eine gemeinsame politische Vision zu überbrücken. Diese soll den Weg für eine gemeinsame Verwaltung in Gaza nach dem Krieg ebnen, erklärt die Analystin Tamara Haddad gegenüber Qantara.
Die Hamas wiederum steht vor einem Dilemma: Um sicher zu stellen, dass sie an der Verwaltung Gazas nach dem Krieg politisch beteiligt sein wird, habe sich die Führung entschieden, mit den VAE zu kooperieren und finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau anzunehmen, so Haddad.
Eine Rolle für Abu Dhabi in Nachkriegs-Gaza?
Die VAE unternehmen seit Oktober 2023 also praktische Schritte, um sich eine Rolle beim Wiederaufbau und der Verwaltung Gazas nach dem Krieg zu sichern. Humanitäre Hilfe spielte eine zentrale Rolle für die Etablierung der VAE vor Ort. Auch die USA und Israel sehen in den VAE zunehmend einen Partner in der Verwaltung des Gazastreifens Kriegsende, der die Hamas potenziell ersetzen könnte.
Lana Nusseibeh, VAE-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, sagte der Financial Times am 18. Juli, Abu Dhabi diskutiere mit den USA über Pläne, wie das Machtvakuum in Gaza nach dem Krieg zu füllen sei. „Der Plan (für Gaza) muss beinhalten, was wir für nötig halten: eine humanitäre Komponente, um den Palästinenser*innen in Gaza zu helfen, mit der schrecklichen Zerstörung umzugehen; eine Sicherheitskomponente; und eine politische Komponente, die eine nachhaltige Lösung des Konflikts möglich macht.”
Goren vom Middle East Institute steht diesen Plänen kritisch gegenüber. Er schlägt vor, dass die Gespräche zwischen Israel, den VAE und den USA über die Zukunft Gazas auch die Palästinensische Autonomiebehörde einbeziehen: „Ein Plan für die Regierung Gazas nach dem Krieg wird dann erfolgreich sein, wenn er auf die Wiederkehr einer neu belebten Palästinensischen Autonomiebehörde abzielt, mit Unterstützung regionaler und internationaler Akteure und einer Perspektive für eine Zweistaatenlösung”.
Berichten zufolge unterstützt Israel einen Plan, dass eine multinationale Kraft unter Führung der VAE Gaza nach dem Krieg regiert, bestehend aus Vertretern von 15 wichtigen Großfamilien in Gaza und weiteren Staaten der Region. Das Wall Street Journal berichtete im Juli, Vertreter*innen Israels und der USA würden darüber nachdenken, Dahlan zu unterstützen, den sie als zukünftigen Chef einer Interim-Sicherheitskraft im Gazastreifen sähen.
Die Großfamilien in Gaza spielen eine wichtige Rolle für Israels Pläne für die Nachkriegszeit, haben sich bislang jedoch geweigert, mit den Israelis zu kooperieren. „Unser Standpunkt ist klar: Die Zeit nach Ende des Krieges sollte eine palästinensische Angelegenheit sein. Wir akzeptieren keine Einmischung von außen”, sagte Akef al-Masry, Generalkommissar der Obersten Behörde der palästinensischen Großfamilien in Gaza.
Von Worten zu Taten
Auch wenn alle Augen auf die USA gerichtet sind, sollten Vermittlungsbemühungen aus der Region nicht vernachlässigt werden: Eine engere Zusammenarbeit zwischen europäischen und arabischen Staaten könnte den israelisch-palästinensischen Friedensprozess unterstützen
Zuallererst braucht es einen Waffenstillstand
Jüngst erschienen Berichte, dass US-Außenminister Blinken einen Nachkriegsplan für Gaza in Betracht ziehe, der auf Ideen Israels und der VAE beruhe. Dieser könnte nach den Präsidentschaftswahlen in der kommenden Woche vorgestellt werden. In der vergangenen Woche war Blinken zum elften Mal seit dem 7. Oktober 2023 in die Region gereist, um einen Waffenstillstand und einen „Day After”-Plan zu diskutieren. Sein erster Stopp war Israel.
Rakha Ahmed Hassan, der ehemalige ägyptische Diplomat, bezeichnet jedoch jeden Plan für die Nachkriegsordnung als eine „verfrühte Flucht nach vorn.” Zunächst müsse ein Weg gefunden werden, die Kämpfe und die Zerstörung in Gaza zu beenden. Monatelange Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas haben bisher zu keinem Waffenstillstandsabkommen geführt. Währenddessen sind im Auftrag der VAE bereits Hilfskräfte vor Ort, um in der Bevölkerung Gazas Fuß zu fassen und ihrem Land eine Rolle in der Nachkriegszeit zu sichern.
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