Aus der WG ins Flüchtlingslager

Stigmatisierung als Flüchtlinge, mangelnde Privatsphäre und eine ungewisse Zukunft – das sind einige der Probleme, mit denen syrische Frauen im Libanon kämpfen. Die Filmemacherin Carol Mansour hat ihre Geschichten in dem bewegenden Dokumentarfilm "Not Who We Are" festgehalten. Von Jannis Hagmann

Von Jannis Hagmann

Mit rosa Lippenstift hat jemand "Guten Morgen" auf den Spiegel geschmiert, dazu einen Smiley und Kussmund. Im Wohnzimmer, neben dem Fernseher, lehnt eine Gitarre an der Wand. "Es ist acht Monate her, dass ich Syrien verlassen habe", erzählt Afra'a Batous. Mit ihrer Schwester und drei weiteren Mitbewohnern aus Syrien teilt sich die 27-Jährige die 1.000 Dollar für die gemeinsame Wohnung in Beirut.

Es ist kein Zufall, dass uns die bekannte libanesische Filmemacherin Carol Mansour zuerst in Afra'as Beiruter WG führt und nicht in eines der provisorisch errichteten Zeltlager, in denen viele – aber eben längst nicht alle – Syrerinnen im Libanon unterkommen. Für ihren Dokumentarfilm "Not Who We Are" hat Mansour fünf syrische Frauen begleitet. Ihre Geschichten zeigen, auf welch unterschiedliche Weise das libanesische Exil das Leben der Frauen umkrempelt – und dass eine Erfahrung ihnen doch allen gemein ist: der Neustart in eine ungewisse Zukunft.

Auf der Wohnzimmercouch stapeln sich einige Wolldecken, im Nachbarzimmer arbeitet eine Mitbewohnerin an Linoldrucken. Afra'a erzählt: "Die Familienstrukturen sind nicht mehr wie früher. Es ist ein seltsamer Zustand. Familien werden auseinandergerissen, aber gleichzeitig finden die Leute neu zusammen. Alle suchen eine neue Familie, oft sind das Freunde oder andere Verwandte."

Auch ein Mann, ebenfalls Künstler, ist unter Afra'as Mitbewohnern. Was denn ihre Eltern davon hielten, dass sie mit einem nicht-verwandten Mann die Wohnung teile, fragt Mansour vorsichtig. Sie antwortet: "Die Krise hat die Dinge auf den Kopf gestellt. (...) Wir sind gezwungen, einen bestimmten Lebensstil zu führen. Alle passen sich an, die Eltern wie auch die Kinder. Sie wären strenger, wenn wir noch in Syrien wären oder es keine Krise gäbe."Afra'a ist Sängerin. In Beirut habe sie eine Band kennengelernt, erzählt sie. Die Kamera zeigt sie gebrochene Akkorde üben, bei Kaffee und Zigaretten mit den Mitbewohnern quatschen. An diese Zeit werde sie sich noch lange erinnern, sagt sie. Momentan könne sie aber nicht an die Zukunft denken, nicht einmal an morgen. "Das ist nur eine Phase, es ist verlorene Zeit, die wir jungen Leute hinter uns bringen müssen" – so sieht sie ihre Zeit in Beirut. "Ich habe immer das Gefühl, dass mich etwas in meinen Entscheidungen lähmt."

Angst vor sexuellen Übergriffen

Wie Afra'a und ihre Schwester sind Hunderttausende über die libanesische Grenze geflohen, seit in Syrien der Krieg ausbrach. Schon jetzt kommt jeder Fünfte in dem kleinen instabilen Land aus Syrien. Vor allem Frauen und Kinder suchen hier Schutz. Sie habe daher sofort ja gesagt, erzählt Mansour, als die Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut ihr vorschlug, die Lebenssituation der Syrerinnen im Libanon zu dokumentieren. Während die Dokumentarfilmerin Afra'as echten Namen verwendet und sie in ihrem privaten Umfeld zeigt, besteht Samar – so möchte sie im Film genannt werden – auf Anonymität. Umso persönlicher ist ihre Geschichte, die sie mit den Zuschauern teilt.

Mit ihren fünf Kindern ist die heute 36-Jährige aus der syrischen Kleinstadt Zabadani ins libanesische Baalbek geflohen. Eigentlich wollte sie ihre Töchter einmal auf eine Universität schicken; stattdessen hat sie zwei von ihnen nun verlobt: "Ich habe mich entschlossen, sie zu verheiraten. (...) Sie sind junge Mädchen, man weiß nie, was ihnen zustoßen kann. Gott verbiete es, wenn mir jemals etwas passieren sollte, würde ich mich wahrscheinlich umbringen. Aber zu sehen, dass meiner Tochter etwas zustößt – wie die Dinge, von denen wir hören, Vergewaltigungen und so weiter – ich würde verrückt werden. Ich ziehe es vor, sie zu verheiraten."

Die 16-Jährige soll einen 23-jährigen Libanesen heiraten, die 14-Jährige einen 27-jährigen. Der Vater, erzählt Samar, sei anfangs dagegen gewesen, habe aber schließlich zugestimmt. Ob sie denn glücklich sei mit dieser Entscheidung, will Mansour wissen. Die zitternden Hände, die die Kamera heranzoomt, um nicht das verpixelte Gesicht zu zeigen, nehmen die Antwort vorweg.

"So sind wir nicht"

Carol Mansour; Foto: Forward Film Production
Libanesin mit palästinensischen Wurzeln: Carol Mansour ist eine der prominentesten Dokumentarfilmerinnen im Zedernstaat. Sie arbeitet zu sozialen und politischen Themen. Zu ihren Werken zählt "Maid in Lebanon", über die Arbeitsmigrantinnen im Libanon, und "100 % Asphalt" über Straßenkinder und der preisgekrönte Film "A Summer Not to Forget".

Samars Not, die Verzweiflung und die Stigmatisierung, der die Flüchtlingsfamilie in der libanesischen Gesellschaft ausgesetzt ist, haben dem Film den Namen Not Who We Are gegeben: "Sie sagen immer, dass diese syrischen Frauen alles akzeptieren würden. Wenn ein Mann kein Geld hat, sagen sie ihm 'Heirate eine Syrerin'. Wenn ein älterer Mann eine Braut sucht, sagen sie 'Die Syrer verscherbeln ihre Mädchen, sie verheiraten ihre Töchter an jeden' (…). Die Leute hier gucken auf uns herab, weil wir Syrer sind und uns mit sehr wenig zufrieden geben. (...) Aber so sind wir nicht."

Vor allem aber quält Samar die Frage, wie sie ihre 14-jährige Tochter auf die Ehe vorbereiten soll. "Ich traue mich nicht, solche Dinge anzusprechen", sagt sie. "Es ist unmöglich für mich, ihr zu erzählen, was passieren wird. Ich kann das nicht. (…) Ich versuche ihr zu sagen, dass sie eine neue Verantwortung gegenüber ihrem Ehemann haben wird (…) Aber ihr zu sagen, dass sie eine sexuelle Beziehung mit einem Mann, einem Jungen haben wird? Das kann ich ihr nicht sagen."

Afra'a und Samar sind nur zwei der Frauen, von denen Mansour berichtet. Die Geschichten der Protagonistinnen, von denen einige in Flüchtlingslagern im Nordlibanon leben, könnten unterschiedlicher kaum sein. Das lähmende Gefühl des Von-Null-Anfangens aber, nicht zu wissen, ob und wann sie zurückkehren können, verbindet alle fünf Frauen. Die große Politik dagegen, das Ausmaß der Flüchtlingskrise oder die konfessionellen Spannungen im Libanon – all das interessiert Filmemacherin Mansour in "Not Who We Are" nicht. Ihr geht es um die Menschen und ihre alltäglichen Sorgen, aber auch um Hoffnung, Kraft und Lebensfreude. Eine bewegende und einzigartige Dokumentation.

Jannis Hagmann

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de