Neue Fahrradkultur für Marokko
Im Gewirr der Altstadtgassen von Marrakesch Fahrrad zu fahren ist nichts für schwache Nerven. Es gilt, schwerfällige Maultiere zu umfahren, genauso wie schlafende Hunde, Händler mit Obstkarren oder zum Nachbarschaftstratsch verweilende Passanten. Die Luft ist erfüllt vom Benzingeruch motorisierter Zweiräder, das Atmen fällt mitunter schwer. Der Drahtesel gilt in Marokko gemeinhin als Arme-Leute-Fortbewegungsmittel. Wer etwas auf sich hält, ist motorisiert.
Dabei ist die hügellose Stadt eigentlich wie gemacht, um in die Pedale zu treten. “Marrakesch ist eine ideale Fahrradstadt. Es ist flach und sprüht nur so vor Energie”, sagt Cantal Bakker und stützt sich auf ihr Lieblingsfahrrad, ein altehrwürdiges Hollandrad. Die Radenthusiastin aus Den Haag fuhr 2014 zum ersten Mal mit dem Rad durch Marrakesch. Sie verliebte sich schnell in die Stadt, gab ihr Kunststudium auf und beschloss, in Marokko zu bleiben. Allmählich entwickelte sie eine Vision, wie sich mithilfe des Fahrrads Beschäftigungs- und Mobilitätsprobleme in Marrakesch lösen lassen könnten.
Mit ihrer Idee, Marrakesch in eine Fahrradstadt zu verwandeln, zog sie bis ins marokkanische Verkehrsministerium. “Ich habe schnell gemerkt, dass vielerorts großes Chaos herrscht. Aber Chaos bedeutet auch, dass es reichlich Gelegenheiten gibt und auch Raum, um Dinge anzupacken. In Holland hingegen wird ein neuer Fahrradweg bis auf den Zentimeter genau geplant. Da bleibt nicht so viel Spielraum übrig.”
Ausgediente Müllsortierungsanlage als Projektzentrale
Über die Hauptstraße, an der Bakkers Projekt liegt, knattern Mopeds und Pritschenwagen. In der Ferne schreit ein Esel. Hin und wieder rollt ein Fahrrad vorbei. Mit Ausdauer und Beharrlichkeit gelang es Bakker, den Bürgermeister zu überzeugen, ihrer Initiative, die sie “Pikala” nannte, eine ausgediente Müllsortierungsanlage am Rande der Medina — der Altstadt von Marrakesch — zur Verfügung zu stellen.
“Pikala” bedeutet auf Darija — dem marokkanischen Umgangsarabisch — schlicht “Fahrrad” und spielt auf die schnörkellose Mission der fünf Jahre alten Initiative an: Das Rad in den Straßen von Marrakesch salonfähig zu machen und nebenbei Berufsperspektiven für junge Marokkaner zu schaffen. Die braucht es dringend: Etwa die Hälfte der marokkanischen Bevölkerung ist unter 25 Jahren alt, das Durchschnittsalter liegt bei etwa 29 Jahren. Zuletzt lag die die Jugendarbeitslosigkeit bei mehr als 30 Prozent.
Wiederverwertung gehört nach wie vor zur Projektphilosophie von Pikala: Werkzeuge, Stühle und Tische sind allesamt secondhand. Genau wie die 300 Fahrräder: Die meisten der Räder sind stehengebliebene Drahtesel aus den Straßen von Amsterdam und Den Haag, die — vor der Verschrottung gerettet — auf Containerschiffen nach Marokko geschafft wurden. “Wir haben in Holland mehr Fahrräder als Menschen”, lacht Bakker. “Hier in Marrakesch bekommen die alten Räder nun ein zweites Leben.”
Von der Projektzentrale aus starteten vor der Corona-Pandemie täglich Gruppenrundfahrten für Touristen. Unter der Leitung von einheimischen Jugendlichen geht es an Orte, die jenseits der ausgelatschten Touristenpfade liegen — etwa an den Sufi-Schrein von Sidi El-Abbas, einem der sieben Schutzheiligen von Marrakesch, in eine traditionelle Nachbarschaftsbäckerei und natürlich auf den Djemaa el Fna, den ikonischen Rummelplatz mit seinen Gauklern, Musikanten und Schlangenbeschwörern.
Druck auf die Infrastruktur verringern
Neben seiner Umweltverträglichkeit birgt das Fahrrad großes Potenzial, um den chaotischen Verkehr in vielen marokkanischen Städten zu entlasten. Fast zwei Drittel der marokkanischen Bevölkerung lebt inzwischen in Städten. “Das Fahrrad als klimaneutrales Fortbewegungsmittel kann dabei helfen, den Druck auf die Infrastruktur zu verringern”, sagt Cantal Bakker. Angesichts einer rasanten Urbanisierung brauche es dringend nachhaltige Lösungen.
Eine weitere Komponente von Pikala ist der regelmäßig stattfindende Fahrradunterricht, der sich an junge Marokkanerinnen im Teenager-Alter richtet. Eine der Trainerinnen ist Khaoula El Haidi, die ein tannengrünes Kopftuch, Daunenjacke und Sneaker trägt. Die 23-Jährige wünscht sich, dass die zwei Dutzend jungen Frauen in ihrer Unterrichtsklasse genauso Feuer für das Zweirad fangen wie einst sie selbst. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass die ersten Pedaltritte zunächst einmal Überwindung kosten, zumal in einer Kultur, in der das Fahrradfahren nur selten zum Kindsein gehört, schon gar nicht für Mädchen.
Die jungen Frauen, die in dem kleinen Park neben der Projektzentrale auf der Bordsteinkante ihrer Trainerin gegenübersitzen, sind sportlich gekleidet. Gleich werden die Studentinnen von der Uni Marrakesch ihre ersten Runden drehen. Die meisten von ihnen stammen aus Dörfern an den Rändern des Atlasgebirges und sind noch nie auf ein Zweirad gestiegen. Sie studieren Medizin, Physik, Englisch und Philosophie im ersten Studienjahr und haben eines gemeinsam: den Willen, mehr Mobilität in ihr Leben zu bringen.
“Es ist viel leichter, als ihr denkt”, ruft El Haidi ihrem Publikum zu und schwingt sich auf den Sattel. “Ihr müsst euch nur trauen!” Dann geht es an die Praxis. “Binde deinen Rock lieber zusammen”, rät El Haidi einer Anfängerin, die sichtlich nervös ihren Fuß auf die Pedale stellt. Ruckelnd setzt sich die junge Marokkanerin in Bewegung. Die Räder schlingern. So ganz klappt es mit dem Gleichgewicht noch nicht. El Haidi läuft nebenher und dient ihrer Schülerin als Stütze. Diese ziert sich und kichert etwas schüchtern, doch El Haidi ist geduldig. “Atme tief durch”, sagt sie. “Du machst das schon gut. Es geht nicht darum, möglichst schnell zu lernen.”
Mit dem Fahrrad für die Welt öffnen
Oft mangele es den Studentinnen vom Land an Selbstvertrauen, meint El Haidi. “Das Fahrrad ist für uns ein Mittel, um die jungen Frauen für die Welt zu öffnen”, fügt sie in fast akzentfreiem Englisch hinzu. “Ich zeige ihnen, wie sie auf der Straße die Kontrolle über ihr eigenes Rad übernehmen können. Doch dies ist nur der erste Schritt. Vielleicht werden sie eines Tages einmal ihre eigenen Firmen und Familien leiten.”
El Haidi stammt aus der Küstenstadt Safi rund 160 Kilometer westlich von Marrakesch. Dort saß sie bereits als junges Mädchen auf dem Sattel. Dies jedoch ist in Marokko eher eine Ausnahme. Besonders in konservativen Kreisen gilt das Fahrradfahren für Frauen als ein Verstoß gegen die den guten Sitten. Der Bewegungsradius vieler junger Marokkanerinnen beschränkt sich deshalb oft auf Haus und Schule. Ihre Freizeit verbringen sie zum Großteil in den eigenen vier Wänden.
Während physische Arbeit meist von Männern verrichtet wird, mangelt es Frauen häufig an Bewegung. In vielen Gegenden von Marrakesch gilt der öffentliche Raum als ungeeignet für Mädchen — zu laut, zu dreckig, zu gefährlich. Aus Angst vor sexueller Belästigung ziehen es viele Eltern vor, ihre Töchter mit dem Auto durch die Stadt zu fahren, anstatt sie alleine laufen zu lassen. Für ärmere Familien, die keine Vehikel besitzen, kann dies sogar zum Grund werden, ihre Töchter nicht weiter in die Schule zu schicken. Das Fahrrad hingegen verschafft jungen Frauen nicht nur Bewegungsfreiheit, sondern auch ein Gefühl von Sicherheit. Beim Trainingsprogramm von Pikala lernen die Studentinnen neben dem Fahren grundlegende Verkehrsregeln und erhalten einen Basiskurs in Erster Hilfe.
Nebenan in der Fahrradwerkstatt von Pikala wird geschraubt. “Woraus besteht ein Fahrrad?”, fragt ein Poster, das neben der Werkstatt hängt. Hier bekommen drei Teenager-Jungs gerade Unterricht als Mechaniker. Konzentriert beugen sie sich über ein vom Haken baumelndes Fahrrad. Einer von ihnen zieht die Mutter an, die das Schutzblech fixiert. Neben Mountainbikes und Tandems sind die meisten Fahrräder klassische Hollandräder ohne Gangschaltung.
Fahrradkuriere während Corona-Lockdown
Inzwischen haben 30 junge Marokkaner und Marokkanerinnen bei Pikala Arbeit gefunden — als Trainer, Mechaniker, Lebensmittellieferanten, in der Buchhaltung und Verwaltung, oder als Tour Guides. Während des Corona-Lockdown haben Freiwillige auf Pikala-Fahrrädern als Kuriere lebensnotwendige Verpflegung an Haushalte ausgeteilt. So ist das Projekt praktisches Lernfeld und Karrierestation zugleich. Nach einigen Monaten des Engagements in der Nichtregierungsorganisation wurden manche der Jugendlichen bereits von Firmen angeheuert oder bewarben sich erfolgreich um einen Studienplatz in Europa.
Soukhaina Rhafiri ist eine der jungen Frauen, die sich mit Pikala Schwung für ihre Karriere erhoffen. “Lange sträubte ich mich davor, auf ein Fahrrad zu steigen”, sagt Rhafiri, die seit einem Jahr als eine von sechs Pikala-Guides Besuchern aus dem Ausland Fahrradtouren durch die Medina anbietet. Das Arme-Leute-Image habe sie zunächst abgeschreckt. Rhafiri, die einen Bachelor in englischer Literatur hat, ist geschminkt, trägt eine Warnweste, darüber einen elegant drapierten Schal. Dann wandelte sich ihre Perspektive aufs Radfahren. “Ich bin nun stolz, Touristen durch meine Stadt zu führen.” Ihr Onkel ist ebenfalls Fremdenführer. Bislang gebe es in Marokko viel zu wenig Frauen in Tourismusberufen. Mit Pikala als Sprungbrett möchte sie in der Zukunft ihre eigene Reiseagentur gründen.
Dann bringt Rhafiri ein rundes Tablett mit einer Kanne des allgegenwärtigen Minztees, der mit reichlich Zucker versetzt ist. Die Gäste der nächsten Tour — sie stammen aus Südafrika, Norwegen, England und Deutschland — warten bereits. Nach dem Willkommenstee bekommen die Touristen ihre Fahrräder zugewiesen. Etwas zögerlich rollen die Ausländer hinter Rhafiri mitten in das Verkehrschaos aus Passanten, Blechvehikeln, Motorrädern und Eselskarren. Sie sehen dabei fast so unbeholfen aus wie die Studentinnen von El Haidis Kurs.
Mit seinem Fahrradtour-Konzept hat Pikala frischen Wind in die innovationsarme marokkanische Tourismus-Branche gebracht. Reiseführer wie der “Lonely Planet” bewerben die Freizeitaktivität; vor der globalen Epidemie haben monatlich Hunderte von Touristen an den Fahrten durch die Altstadt teilgenommen. In der Zukunft möchte Pikala, wenn alles nach Plan geht, auch in andere marokkanische Regionen expandieren — zunächst in die mondänen Küstenstädte Essaouira und Agadir, dann vielleicht auch in andere Gegenden des Landes. Corona hat diese Pläne erst einmal ausgebremst, aber Pikala gilt über die Stadtgrenzen von Marrakesch hinaus bereits als Projekt mit Vorbildcharakter.
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