Weder Autokratie noch Theokratie
Der Koran wurde hoch gehalten; Rufe wie "Kein Gott außer Gott" hallten durch die Straßen und Hunderte ägyptischer Salafisten gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, dass "Ägypten ein islamisches Land sei und das Gesetz der Scharia umsetzen" solle. Dies war Ende Juli, als konservative Islamisten auf die Straße gingen und der Fundamentalismus seinen ersten öffentlichen Ausbruch fand.
Es war eine beeindruckende Demonstration der Organisationsfähigkeit: Die meisten Teilnehmer wurden in Bussen zum Tahrir-Platz in Kairo gebracht – und das zum Teil aus Ortschaften, die hunderte Kilometer von der Hauptstadt entfernt sind. Dies war der Beginn dessen, was man seitdem als den "islamischen Graben" bezeichnen kann, der sich durch die ägyptische Gesellschaft zieht. Nicht überraschen konnte die Reaktion der Linken, die zuvor acht Monate lang für die Vorteile des säkularen Staates geworben und gekämpft hatte.
Anfang Oktober zeigten die Islamisten erneut ihre Macht, als sie den Streikräften "zu Hilfe kamen", nachdem diese koptische Christen beschossen und überfahren hatten, wobei 27 Kopten zu Tode kamen. Die Islamisten bewaffneten sich mit Stöcken und Steinen, machten sich in die Kairoer Innenstadt auf und griffen Gruppen von Christen an. Dies war ein neuer Beweis für die beträchtliche Macht, über die die Konservativen verfügen.
Die Frage, die sich stellt und auf die noch eine Antwort gefunden werden muss, ist die nach der Rolle der Religion im heutigen Ägypten. Dies betrifft sowohl das Land als Ganzes als auch – und das ist vielleicht noch entscheidender – die unteren, traditionellen Schichten sowie die untere Mittelschicht der 80 Millionen zählenden ägyptischen Bevölkerung. Und diese Schichten sind es auch, die letztendlich die Wahl entscheiden werden. Dennoch widmen sich die Medien viel zu wenig der Frage, wie sich der Glaube und die glaubensbasierte Politik im Alltag der Menschen wider spiegelt.
"Der Islam ist die Lösung!"
Immer wieder wird berichtet, dass der politische Arm der Muslimbruderschaft, die erst zwei Monate vor der Wahl am 28. November damit begann, den Slogan "Der Islam ist die Lösung" zu verwenden.
Auch wenn dies nach ägyptischem Recht nicht erlaubt ist, gibt es wenig, was die Regierung oder die liberale Linke gegen die Verwendung des Slogans hätte tun können, was zeigt, wie es den geschickt agierenden Muslimbrüdern gelingt, mit Hilfe eines einzigen Satzes die politische Stimmung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Die Berufung auf den Islam ist eine politische Taktik, der die Ägypter fast nie widerstehen können und deshalb in allen Bereichen gern angewendet wird.
Laut Bassem Sabry, einem führenden liberalen Denker, der sich viel mit der ägyptischen Gesellschaft und Politik befasst hat, wird Religion von den unteren Schichten im Land oftmals als eine Art Lebensmaxime verstanden.
Auf vielerlei Weise helfe sie, meint er, "die Menschen in Zeiten großer Verwirrung mit einem oft gebrauchten moralischen Kompass auszustatten; und das gerade in einer Zeit, in der so viele unterschiedliche sozio-ökonomische und kulturelle Faktoren auf sie einwirken und ihnen eine solche Vielfalt an sozialen und kulturellen Modellen bieten, denen sie sich zuwenden könnten."
Mohammed ist ein einfacher Handwerker, jemand, der sich als Tagelöhner in einem armen Stadtviertel Kairos durchschlägt. „Der Islam gibt mir die Kraft zum Leben und ich will politische Führer, die meine Meinung teilen, dass es ehrenwert ist, ein Muslim zu sein“, sagt er.
In Ägypten, wo der Bildungsstandard zuletzt immer mehr gefallen ist, findet das wirkliche Lernen im besten Fall in Moscheen und Kirchen statt, wo Scheichs und Priester einen Moralkodex lehren, der auf dem jeweiligen Glauben basiert.
Diese Predigten werden von Millionen Ägyptern verfolgt, von denen viele keine Blogs kennen, keinen Twitter- oder Facebook-Account haben und die ihre täglichen Nachrichten einzig aus den staatlich kontrollierten Medien empfangen. Im Kern geht es um eine Lücke, die von den religiösen Gruppen im Lande gefüllt wird. Im weiteren Verlauf der Wahlen könnte dies ein entscheidender Faktor sein, wer gewählt wird und wer nicht.
"Wir gehören doch alle zusammen!"
Asmaa Mahfouz, eine Aktivistin, die für das Parlament kandidiert, kennt die Macht der Religion. Während sie eine christliche Frau tröstete, die in der Nacht vom 9. Oktober, als es zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Muslimen und den Sicherheitskräften kam, vollkommen aufgelöst war, sprach sie von der Notwendigkeit, Christen und Muslime zusammenzubringen: "Wir gehören doch alle zusammen, wir müssen zusammenarbeiten und an die Macht Gottes glauben", sagte sie der Frau. Später erklärte sie die Bedeutung der Religion für die Ägypter mit den Worten: "Sie ist immens wichtig und sollte daher nutzbar gemacht und verstanden werden, wenn wir zusammenleben und Ägypten besser machen wollen."
Die Schwierigkeit dabei besteht darin, dass die liberalen Linken zwar all die richtigen Dinge für die politische Zukunft des Landes sagen: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Redefreiheit und Ende der Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten. Und doch gelingt es ihnen offenbar nicht, die unteren Schichten einer extrem auf soziale Klassen ausgerichteten Gesellschaft zu erreichen.
Dabei könnte der richtige Umgang mit dem Islam, mit seiner Nutzung in der Politik und dem Weg, auf dem die Herzen und Köpfe der eher konservativ denkenden Menschen gewonnen werden können, darüber entscheiden, ob Ägypten in Zukunft ein eher säkularer Staat – wenn auch mit islamischem Einschlag – werden wird oder ob das Land den konservativen islamischen Gruppen überlassen wird, die Ägypten einem seit Jahrzehnten gärenden Konservatismus überantworten.
Tatsächlich spielt die Religion in der ägyptischen Gesellschaft eine so wichtige Rolle, dass sie nicht einfach zum Verstummen gebracht werden kann. Bei der Parlamentswahl gibt es Kandidaten, die die Religion als Basis und Begründung aller politischen Entscheidungen anerkannt wissen wollen.
Laut Dalia Ziada, einer Kandidatin und langjährigen Menschenrechtsaktivistin, bringt dies größere Probleme mit sich. Sie glaubt, dass es Aufrichtigkeit braucht, wenn man gegen die Religiösität der Ultrakonservativen unter den Islamisten kämpfen will; zugleich aber muss man klarmachen, dass man nicht gegen die Religion der Menschen kämpft.
Kein Platz für eine neue Diktatur
"Wir müssen hingehen und den Menschen die Wahrheit sagen. Wir sind aufrichtig", erklärt etwa die Kandidatin für die FJP in Kairo. "Wir können ihnen nicht den Himmel auf Erden versprechen. Niemand auf Erden kann das und deshalb ist es wichtig, aufrichtig zu sein. Dann werden die Menschen das auch verstehen und uns unterstützen."
Sie gibt zu, dass Ägypten eine zutiefst religiöse Gesellschaft ist, doch im Vorfeld der Wahlen, die darüber entscheiden werden, wer mit der Abfassung der neuen Verfassung beauftragt wird, tut Ziada die Furcht einiger ab, dass Ägypten sich in Richtung eines Konservativismus nach saudi-arabischem oder iranischem Vorbild entwickeln könnte: "Ja, wir sind religiös, aber ich glaube, dass die Ägypter nicht so naiv sind, denen, die behaupten, sie auf direktem Wege zu Gott führen zu können, den Sieg zuzutrauen. Wir tauschen doch nicht die Autokratie gegen die Theokratie, weil es im Grunde dasselbe ist. keinen Platz mehr."
Am 28. November, wenn Millionen von Ägyptern zu den Wahlurnen gehen, wird die Welt gespannt der Entscheidung harren. Einige in Washington und in anderen westlichen Hauptstädten sind nervös und erwarten einen Wahlausgang, wie es ihn vielleicht gar nicht geben wird.
Wenn doch, wird es darauf ankommen, dass auch die kleineren politischen Gruppen innerhalb einer zu erwartenden Regierungskoalition ein Mitspracherecht bekommen. Auch wenn das Verhältnis zwischen Religion und Demokratie im Ägypten nach Mubarak ein heikles ist, scheinen sie miteinander auszukommen.
Joseph Mayton
© Qantara.de 2011
Der amerikanische Journalist Joseph Mayton ist Chefredakteur der Website "Bikyamasr.com" in Kairo und berichtet regelmäßig aus Ägypten und dem Nahen Osten.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de