In die falsche Richtung

Die Parlamentswahlen in Ägypten gelten als historisch bedeutsam, da sie die ersten freien Wahlen nach 30 Jahren Mubarak-Herrschaft sind. Doch Ärger über das komplizierte Wahlgesetz, ökonomische Unsicherheit sowie neue Unruhen überschatten den geplanten Urnengang und verunsichern viele Ägypter. Aus Kairo informiert Amira El Ahl.

Von Amira El Ahl

Um es vorweg zu nehmen: Es ist kompliziert. Wer ab dem 28. November bei den ersten freien Parlamentswahlen seit dem Sturz Hosni Mubaraks sein Kreuzchen an der richtigen Stelle machen will, muss sich vorher genau mit dem neuen Wahlsystem auseinandergesetzt haben.

"Sogar ich habe lange gebraucht, bis ich es verstanden habe", gesteht Hoda Nasralla, Anwältin und Kandidatin für die Sozialisten im Wahlbezirk Shubra, Nord-Kairo. Experten sind sich einig: Das neue Wahlsystem ist kompliziert und für den Durchschnitts-Ägypter schwer zu verstehen.

Hinzu kommt, dass die Menschen in Ägypten zutiefst verunsichert sind. Vor allem die sich stetig verschlechternde wirtschaftliche Lage und die anhaltenden Arbeiterstreiks beunruhigen die Menschen. Aus einer vom "Internationalen Friedens-Institut" (IPI), einer Nichtregierungsorganisation aus New York, im September veröffentlichten Studie geht hervor, dass die Zahl der Ägypter, die ihr Land auf dem Weg in die richtige Richtung sehen, auf 50 Prozent gesunken ist.

Instabile Wirtschaft

Demonstration am Tahrir-Platz in Kairo; Foto: dpa
Festhalten an den Errungenschaften und Zielen der Revolution vom 25. Januar: Im Vorfeld der Parlamentswahlen befürchten viele Ägypter, dass der Oberste Militärrat den Urnengang doch noch absagen könnte und an seiner Macht festhalten wird.

​​42 Prozent der Befragten sagten, dass sich Ägypten in die falsche Richtung bewege. Im März noch sprachen sich 82 Prozent der Befragten positiv aus. Vor allem die wirtschaftliche Lage besorgt die Menschen. Fast zwei Drittel der Befragten nannten die Wirtschaft als das größte Problem des Landes, doppelt so viele wie noch im März. Gleich dahinter folgen Sorgen über die andauernden Proteste, Instabilität und die steigende Kriminalität im Land. Viele Ägypter sagen, dass sie heute wirtschaftlich schlechter dastehen und sich weniger sicher fühlen als unter dem alten Regime.

Diese Unsicherheit führt auch dazu, dass 67 Prozent der Ägypter angaben, noch immer nicht zu wissen, für wen sie ab dem 28. November ihr Kreuz machen wollen. Das ist eine Steigerung von 40 Prozent seit März.

Ein Grund dafür ist wohl auch die Vielzahl neuer politischer Parteien, die sich seit dem Sturz Mubaraks gebildet haben. Gab es bis Februar gerade mal eine Handvoll Parteien, die am politischen Prozess teilnahmen, der jedoch ausschließlich von der Nationaldemokratischen Partei (NDP) gelenkt wurde, gibt es heute mindestens 55 offiziell registrierte Parteien in Ägypten.

Wandelnde Allianzen

Diese haben sich in den vergangenen Monaten zu immer wieder neuen Koalitionen zusammengetan, mit denen sie hoffen, eine größere Chance auf den Einzug ins Parlament zu haben. Doch diese sich ständig ändernden Allianzen haben die Ägypter nur noch mehr verunsichert. Diese Verunsicherung spiegelt sich auch in der Studie des Internationalen Friedens-Instituts wieder: Keine Partei würde nach der Studie mehr als drei Prozent der Stimmen erhalten.

Ausschreitungen in Ägypten; Foto: dapd
Schwerste Zusammenstöße seit dem Ende der Mubarak-Diktatur: Die Polizei war in den vergangenen Tagen in mehreren ägyptischen Städten mit massiver Unterstützung der Armee gegen Demonstranten vorgegangen, die den Rücktritt der Militärregierung forderten.

​​Dabei geht es bei diesen Wahlen um viel. Sie sind nicht nur historisch, weil es die ersten freien Parlamentswahlen nach 30 Jahren Mubarak-Herrschaft sind. Sie werden auch maßgeblich bestimmen, wohin die Reise in Ägypten in Zukunft politisch geht.

Am 19. März stimmten 77 Prozent von 18 Millionen Wählern in einem Referendum für Verfassungsänderungen. Das Ergebnis stipuliert unter anderem auch, dass eine neue Verfassung erst nach einem neu gewählten Parlament geschrieben werden soll.

"Das Parlament hat eine Rolle, und nur diese eine: Eine neue Verfassung zu schreiben", erklärt Emad Gad, Analyst am "Al-Ahram Zentrum für Politische und Strategische Studien" in Kairo. Das Referendum im März suspendierte die seit 1971 geltende ägyptische Verfassung. Nach den Parlamentswahlen wird eine Verfassungskommission von 100 gewählten Parlamentariern innerhalb von sechs Monaten einen neuen Verfassungsentwurf erarbeiten, über den im Anschluss das Volk in einem Referendum entscheiden soll.

Jede Stimme zählt also. Deshalb reisen Freiwillige durchs Land. Und im ägyptischen Fernsehen laufen Aufklärungs-Spots, die den Ägyptern erklären sollen, wie sie ihr Parlament zu wählen haben.

Wahl in mehreren Phasen

In der letzten Änderungen der Parlamentsgesetzgebung im September durch den Militärrat wurde die Zahl der Abgeordneten von bisher 504 auf 498 Sitze reduziert. Zehn weitere Sitze werden vom Führer des Militärrats, Feldmarschall Hussein Tantawi in seiner Kapazität als kommissarischer Präsident ernannt.

Unter- und Oberhaus werden in jeweils drei Phasen gewählt, in jede Wahlphase werden Wähler aus neun der 27 Gouvernements zur Wahl gebeten. Als Grund für die Fächerung der Wahl über fast drei Monate werden immer wieder Sicherheits-Bedenken genannt. Um einen reibungslosen Ablauf zu sichern sei es einfacher, die Wahl zu strecken.

Die erste Runde der Unterhauswahlen beginnt am Montag, den 28. November in den Gouvernements Kairo, Fayoum, Port Said, Damietta, Alexandria, Kafr El-Sheikh, Assiut, Luxor und Rotes Meer. Die Stichwahl findet am 5. Dezember statt.

Die zweite Runde beginnt am 18. Dezember in den Gouvernements Giza, Beni Suef, Menufiya, Sharqiya, Ismailia, Suez, Beheira, Sohag und Aswan. Die Stichwahl findet am 21. Dezember statt.

Die dritte und letzte Runde der Unterhauswahlen findet am 3. Januar in den verbleibenden neun Gouvernements Minya, Qaliubiya, Gharbiya, Daqahiliya, Süd-Sinai, Nord-Sinai, Matrouh, Qena und El-Wadi El-Gadid statt. Die Stichwahl ist für den 10. Januar vorgesehen.

Die Oberhauswahl, auch in drei Phasen gegliedert, beginnt mit der ersten Wahlphase am 29. Januar und endet mit der Stichwahl der dritten Wahlphase am 11. März.

Das neue Wahlgesetzt schreibt fest, dass zwei Drittel der Abgeordneten des Unterhauses, also 332 Sitze aus 46 Wahlbezirken über geschlossene Parteilisten gewählt werden. Die restlichen 166 Sitze werden zwischen 83 Wahlbezirken aufgeteilt und mit unabhängigen Kandidaten besetzt. Dieses gemischte System bedeutet für den Wähler, dass er zwei Stimmen abgeben muss und in der Wahlkabine zwei Zettel auszufüllen hat: einen für die Parteilisten und einen für die unabhängigen Kandidaten.

Ägypterin bei der Stimmabgabe; Foto: dpa
Kompliziertes Wahlsystem: Wer bei den ersten freien Wahlen in Ägypten das Kreuz an der richtigen Stelle machen will, muss sich vorher genaustens über die Reglementarien und Abläufe informieren.

​​Für die geschlossenen Partei- oder Koalitionslisten gilt in jedem Wahlkreis das Proporz-System. "Wenn also 100 Menschen in einem Wahlkreis wählen, dem zehn Sitze zustehen, und eine Partei sichert sich 40 Prozent der Stimmen, zwei weitere jeweils 30 Prozent, dann gewinnt die erste Partei vier Sitze im Parlament und die beiden anderen jeweils drei", erklärt Mohamed Saleh, Forscher am "Wirtschafts-Forschungs-Forum". Einziehen werden dann die jeweils ersten Kandidaten auf den Listen. Der Wähler kann also nicht für einen bestimmten Kandidaten stimmen.

In jedem Wahlkreis werden zwischen vier und zehn Sitze vergeben, abhängig von der Größe des Wahlkreises. Die unabhängigen Kandidaten auf der zweiten Liste müssen eine Mehrheit sichern, um ins Parlament einzuziehen. Erreicht keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die 50 Plus-Marke treten in der Stichwahl die zwei Erstplatzierten gegeneinander an.

Keine Frauenquote

Abgeschafft wurde im neuen Parteiengesetz die Frauenquote, die erst für die vergangenen Parlamentswahlen im November 2010 eingeführt worden war. Ersetzt wurde sie mit der Klausel, dass auf jeder Parteienliste mindestens eine Frau stehen müsse. Allerdings wird nicht vorgeschrieben, auf welcher Position die Frau gesetzt werden muss.

Je weiter unten auf der Liste die Kandidatin steht, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ins Parlament einzieht. Steht sie zum Beispiel auf Platz zehn einer Liste müsste die Partei 100 Prozent der Stimmen gewinnen, damit auch diese Kandidatin ins Parlament einzieht. Frauengruppen haben die neue Regelung heftig kritisiert, da es die Chancen von Frauen auf politische Partizipation im Parlament deutlich reduziert.

Die komplizierte Neuregelung des Wahlgesetzes ist in den vergangenen Monaten immer wieder heftig kritisiert worden, und auch die lange Wahlperiode ist vielen ein Dorn im Auge. Denn so, wie es im Moment auf dem Papier aussieht, wird der Militärrat noch bis 2013 die Geschäfte des Landes führen.

Viel zu lange, finden die meisten. Hieß es doch im Februar noch, dass der Militärrat nur in einer Übergangsphase von sechs Monaten die Geschäfte des Landes leiten wolle, um sie dann an eine Zivilregierung abzugeben. Doch dieses Versprechen wurde wie so viele andere nicht gehalten. Wenn alles glatt läuft, dann könnte frühestens im Frühjahr 2013 ein neuer Präsident gewählt werden. Doch nach den jüngsten Ausschreitungen auf dem Tahrir-Platz mit Dutzenden Toten steht womöglich zu befürchten, dass es womöglich doch noch zu einer Aufschiebung der Wahlen kommt, wenn die Unruhen anhalten.

Nichtsdestotrotz laufen die Wahlkampagnen der politischen Parteien bis jetzt ohne Zwischenfälle. "Der Sicherheitsapparat versucht transparent zu agieren", sagt Amr Hamzawy, Gründer der ägyptischen Freiheitspartei, der als unabhängiger Kandidat zur Wahl antritt. Aber der Politiker macht sich auch Sorgen. Denn immer wieder hört er von Bürgern, die nicht zur Wahl gehen wollen, weil sie Angst vor Ausschreitungen haben, vor bewaffneten Banden, die Chaos stiften.

"Das sind Horror-Szenarien, die von bestimmten Gruppen in die Welt gesetzt werden, weil sie die Bürger davon abhalten wollen, ihre Stimme abzugeben", warnt der Politologe. Doch aus Angst nicht wählen zu gehen, sei keine Lösung. "Wir brauchen mehr als 50 Prozent Wahlbeteiligung, ansonsten sind wir weit entfernt von einer demokratischen Entscheidung."

Amira El Ahl

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de