Vom Kampf um die Rechte der Frauen in Kirgisistan

Der poetische Dokumentarfilm von Aminatou Echard macht den 1958 erschienenen Roman „Djamila“ von Tschingis Aitmatow zum Ausgangspunkt für Gespräche mit kirgisischen Frauen aller Generationen.  In Anlehnung an die Titelfigur des Romans erzählen die Frauen von ihren Erfahrungen, ihren Wünschen und ihrer Auffassung von Emanzipation. Von Adela Lovric

Von Adela Lovric

Auf ihrer ersten Reise nach Kirgisistan hatte die französische Filmemacherin Aminatou Echard den Roman „Djamila“ von Tschingis Aitmatow im Gepäck. Ein Roman, den Louis Aragon als „die schönste Liebesgeschichte der Welt“ bezeichnete. Vor Ort stellte Echard fest, dass das Buch offenbar zur Standardlektüre kirgisischer Frauen gehört. Es beeinflusste die Reise der Filmemacherin maßgeblich.

Laut Echard sind viele Frauen auch heute noch in Rollenbildern verhaftet, die sie zur Aufgabe ihrer Freiheiten zwingen. Im Unterschied dazu seien sie in der Sowjetunion dazu ermutigt worden, sich durch Bildung ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu bewahren, was zu mehr Gleichheit zwischen Frauen und Männern beigetragen habe. Die meisten Frauen lernen die Emanzipationsgeschichte von „Djamila“ in der Schule kennen. Mit dem Roman in der Hand konnte Echard das Vertrauen der Frauen gewinnen und zur intimen Gesprächspartnerin derjenigen werden, die sonst von der Gesellschaft angehalten werden, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse hinten anzustellen.

Während dieser Begegnungen schuf das Buch einen Ort des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses. Beseelt von der Titelfigur des Romans, die zum Rollenmodell dieser Frauen geworden war, wendeten sich einige vom Gespräch über das Buch ab und erzählten der Filmemacherin von ihren eigenen Erfahrungen.

Djamila – eine kirgisische Heldin

Echard filmte diese Gespräche mit einer Super-8-Kamera in Begleitung einer Dolmetscherin. 2018 – zehn Jahre später – erschien schließlich ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm „Djamilia“ über ihre damaligen Begegnungen mit den kirgisischen Frauen.

 

Drehort der Dokumentation sind Städte und Dörfer im Ferghanatal und in der Region Talas im Westen Kirgisistans. Die Gespräche mit den dortigen „Djamilas“ reihen sich nahtlos aneinander: vierzehn Frauen im Alter zwischen fünfzehn und zweiundsiebzig Jahren, die in Aitmatows Roman und dessen Hauptfigur ein Bild ihrer selbst finden.

Der Roman spielt im ländlichen Kirgisistan in der Sowjetunion zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er handelt von einer jungen Frau und von deren Kampf um ihre Liebe und gegen die strengen gesellschaftlichen Regeln. Die zwanzigjährige Djamila wird von ihrem jetzigen Ehemann Sadyk entführt und zur Heirat gezwungen: Diese brutale Praxis ist in Kirgisistan immer noch an der Tagesordnung. Nachdem Sadyk in den Krieg zieht, lernt Djamila den Soldaten Daniyar kennen, der verwundet von der Front zurückgekehrt ist. Sie verlieben sich ineinander. Die Geschichte endet damit, dass die beiden Liebenden gemeinsam fliehen.

Die Romanfigur Djamila steht für weibliche Stärke, Emanzipation und Selbstbestimmtheit. Sie bricht mit traditionellen Verhaltensmustern und lebt nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen. Für ihr Aufbegehren gegen tradierte Rollen wird sie sowohl gefeiert als auch verurteilt. In dieser Dualität verkörpert sie das moderne Kirgisistan.

„Wir könnten ein ganzes Buch mit unserem Kummer füllen“

Die meisten Protagonistinnen in Echards Film sehen in Djamila ihre eigenen unterdrückten Wünsche. Viele wurden selbst entführt und mit einem Mann zwangsverheiratet, den sie nicht liebten. Einige haben sich scheiden lassen, andere leben in der Überzeugung weiter, dass sie nur in der Zwangsheirat Teil der Gesellschaft bleiben können. Djamila ist entweder ein Rollenmodell, mit dem sich Frauen identifizieren, oder ein unerreichbarer Traum, über den sie lieber nicht sprechen sollten. Manche verurteilen sogar Djamilas Emotionalität und die Tatsache, dass sie die Liebe über die Loyalität zu einer fragwürdigen Tradition stellt.

Aber wenn diese Frauen über ihre eigene Entführung und Ehe sprechen, in der sie von der Familie des Mannes wie deren Eigentum behandelt werden, erinnert die Sympathienahme für die Täter an das Stockholm-Syndrom. Echard fängt diese Schwingungen zwischen den jeweiligen Protagonistinnen und die Dissonanz in den Individuen eindrucksvoll ein. Sie deckt die Mechanismen auf, auf denen Zwangsehen und asymmetrische Geschlechterdynamiken immer noch beruhen.

 

Ein Spiegel für die Nöte der Frauen

Der Film zeigt verschiedene Aspekte des komplizierten Lebens von Frauen auf und verdeutlicht die bitteren Entscheidungen, die sie treffen müssen: Entweder arrangieren sie sich mit den Erwartungen ihrer Familie und den Regeln der Gemeinschaft oder sie werden gemeinsam mit dem Mann, den sie lieben, verstoßen. Die Dokumentation streift auch die gesellschaftspolitischen Verhältnisse: Den Zusammenbruch der Sowjetunion und Folgen der schlechten Wirtschaftslage für die Lebensplanung der Frauen, die sich mangels Perspektiven von der eigenen beruflichen Entwicklung ab- und dem häuslichen Herd zuwandten.

Der Blick der Filmemacherin fühlt sich nie voyeuristisch oder urteilend an; eher im Gegenteil. Die bekenntnishafte Intimität harmoniert mit den Bildern im Film: Sanfte, passive, fast unbewegte Aufnahmen von Frauen daheim oder in der Natur, die wie fixiert in Raum und Zeit porträtiert werden.

Das Tempo verlangsamt sich zusätzlich durch lange Landschaftseinstellungen – klassisch schöne, weiche, impressionistische Bilder mit dem deutlichen Super-8-Korn. Die gedämpfte und technisch überholte Bildsprache kontrastiert mit dem klaren Klang der digital aufgenommenen Stimmen, die sich zu den verstummten Seiten ihrer selbst bekennen.

Teenager sehnen sich nach Emanzipation

Aminatou Echards verleiht mit „Djamilia“ auch den starken und hoffnungsvollen Stimmen der neuen Generationen und ihrer Unterstützer Raum. Dank Aitmatows Buch und der Lehrenden, die sich für das Leben der jungen Menschen einsetzen, lernen Mädchen in der Schule, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern.

Angesichts des massiven Drucks ihrer Familie, ihres Landes oder ihrer Religion, sich den Interessen der anderen zu beugen, anstatt ihren eigenen Interessen zu folgen, ermutigt der Film dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Die Figur der Djamila beflügelt den sich anbahnenden Wandel. Sie vermittelt Mädchen und Frauen eine wertvolle Lektion darüber, wie wichtig es ist, die  eigenen Rechte zu schützen und für die eigene Freiheit einzutreten.

Adela Lovric

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