Ein afghanisch-europäisches Scheitern
"Melting Dreams“ beginnt in Bamyan, der Hauptstadt der westlich von Kabul gelegenen gleichnamigen Provinz. Ein Ort, der für viele vor allem mit einem Verbrechen gegen das kulturelle Erbe Afghanistans verbunden ist. Die leeren Einbuchtungen der von den Taliban noch vor der US-Invasion von 2001 gesprengten Buddha-Statuen sind kurz im Bild, um daran zu erinnern. Und seit Oktober 2021 sind die Taliban auch in dieser Provinz an der Macht, die ein kulturelles Zentrum der schiitischen Hazara-Minderheit in Afghanistan ist.
Aber in diesem Film, der vor der Rückeroberung der Taliban fertiggestellt wurde, soll es um etwas anderes gehen, eher um einen Gegenentwurf zur Vision der Taliban: Eine Gruppe junger Frauen, die auf 2500 Metern Höhe im Bamyian Ski Club im malerischen afghanischen Gebirge trainiert. Der Club wurde einst mit Schweizer Spendengeldern aufgebaut, jedes Jahr kommen europäische Skitrainerinnen, um Afghaninnen zu betreuen. Ursprünglich wollte Regisseurin Haidy Kancler aus Slowenien ihre Landsfrau Ana porträtieren, die als Skitrainerin nach Afghanistan kommt. Stattdessen faszinieren sie diese jungen Afghaninnen, die hier mit enormem Enthusiasmus trainieren.
Soweit so gut. Sport in Afghanistan, das ist scheinbar immer gut für eine Story. Eine ganze Reihe solcher Filme konnte teilweise große Publikumserfolge erzielen. Zum Beispiel Skateistan: To Live and Skate Kabul, den über eine Million Menschen ansahen. Die gleichnamige NGO versucht gerade, ihre Projekte vor Ort wieder aufzunehmen. Die Kurzdoku "Learning to Skateboard in a Warzone (If You're a Girl)“ beschäftigt sich mit demselben Thema. "Afghan Cycles" von Sarah Menzies erzählt die Geschichte eines weiblichen Fahrradteams. Auch das Skifahren war schon Thema, der Film "Where the light shines“ begleitet zwei junge Männer, die als erste Afghanen für die Olympiateilnahme trainieren.
Die Filme ähneln sich, der filmische Reiz dieser Projekte ist offensichtlich, aber nicht gerade komplex: In ihrem "traditionellen“ gesellschaftlichen Umfeld voller Widersprüche, umgeben von einer atemberaubenden Landschaft – mal Wüste, mal Schnee – werden junge Afghaninnen in europäischen Sportarten trainiert, die im Land kaum oder gar nicht verankert sind. Der Kontrast zwischen Traditionen und Moderne ist ebenso wahr wie schlicht. So einfühlsam und brillant die Filme auch gemacht sein mögen, sie bewegen sich immer dicht an der Grenze der alten Klischees von Ost und West.
Träume lösen sich auf wie schmelzender Schnee
Haidy Kancler hatte eine andere Motivation. Sie war fasziniert von den jungen Mädchen und ihrer Furchtlosigkeit, ihrer ungetrübten Begeisterung für das Skifahren. "Und nach allen diesen Filmen, in denen eine westliche Perspektive auf Afghanistan vorherrscht, wollte ich den Blick drehen und die afghanische Perspektive auf die westliche Kultur einfangen.“ Das läuft keinesfalls immer so ab, wie sie – und die Protagonistinnen des Films - es sich möglicherweise vorgestellt haben. Es entfaltet sich eine Geschichte, in der sich die meisten Träume nach und nach auflösen wie "schmelzender Schnee“. Und das, wohlgemerkt, Jahre und Monate vor der Machtübernahme der Taliban.
Auch wenn dies kein Film über sportliche Höchstleistungen ist, heißt dass nicht, dass die Skifahrerinnen nicht hoch motiviert sind. Und auch hier sagt eine der Protagonistinnen zu Beginn den Satz: "Ich möchte einmal die erste Skifahrerin Afghanistans sein, die an Olympischen Spielen teilnimmt“. Fatima wird mit ihren Freundinnen Fariba und Zakia ausgewählt, zu einem Trainingscamp nach Europa zu reisen, um eine Trainerlizenz zu erwerben. Sie haben in den Bergen bei Bamyan erste Erfahrungen gesammelt und sausen voller Begeisterung, aber noch etwas steif, die Pisten herunter.
Die Schneelandschaft ist magisch, aber ein ausgebautes Skigebiet, gar Lifte, gibt es hier nicht. Dass die jungen Frauen für das Projekt nach Europa reisen wollen, wird von ihren Familien mit zurückhaltender Besorgnis zur Kenntnis genommen. Was ist mit ihren Jobs, ihrer Ausbildung? Wirklich einmischen tun sie sich aber nicht, der Stolz auf ihre Kinder überwiegt deutlich. Die Gemeinschaft der Hazara und ihre wachsende Zivilgesellschaft hat sich viele Freiheiten erkämpft, um die sie seit der Rückeroberung der Taliban wieder fürchten muss.
Was ist mit deinem Verlobten, wird Zakia gefragt? Na, der muss das eben akzeptieren, sonst ist er nicht der Richtige. "Hier gibt es Männer, die sagen: Der Islam erlaubt das nicht. Dabei steht im Koran, das wir gleich sind“, sagt die junge Frau bestimmt. Diese Frauen wissen, was sie wollen.
Vor der Reise werden sie gewarnt: "Wir haben kein gutes Image in Europa - die denken wir wollen alle da bleiben.“ Fariba scherzt in ihrer Familie: Soll nicht lieber der Bruder fliegen, der wolle doch unbedingt nach Europa? Nein, sagt ihre Mutter, nur mein Ski-Champion soll reisen!
Dann beginnt die große Fahrt, die die Drei ans Skigymnasium Stams führt, einer Eliteeinrichtung mit Fokus auf den Skisport, auf dessen Webseite man vielsagend mit dem Motto "Lust auf Leistung“ begrüßt wird. Kurz nach Ankunft sollen sie einen Vertrag mit seitenlangen Bedingungen unterschreiben, die die Mädchen mit ihren begrenzten Englischkenntnissen gar nicht verstehen.
Ein culture clash in Reinkultur
Als sie wenig später an der Schule vorgestellt werden, heißt es, ihr Besuch sei "eine tolle Chance, eine andere Kultur kennenzulernen“.
Aber das Vorstellungsvermögen, aus welcher Welt ihre Gäste kommen, ist begrenzt. Ihre Betreuerin und Skilehrerin vor Ort, Ines, fragt die Mitschüler, was sie über Afghanistan wissen: "Was meint ihr, gehen Kinder in Afghanistan zur Schule? Wie geht es den Frauen dort? Gibt es auch Schnee in Afghanistan?“ So wird die Chance auf Kulturaustausch ziemlich schnell zum Austausch von Stereotypen. Die Mädchen halten dagegen: "Die Lage für Frauen ist jetzt gut – wir können machen, was wir wollen.“ Etwas anders sieht es dann doch aus. Zakias Verlobung ist geplatzt. Ihr Verlobter wollte nicht, dass sie reist, Ski fährt, ins Ausland geht.
Die Ernüchterung angesichts ihres Skiprojekts wächst. Zum Einstieg gibt es einen Fitnesstest mit enttäuschenden Ergebnissen, die Einschätzung des Fitnesstrainers: Ihr bräuchtet erst einmal vier bis sechs Monate zum Muskelaufbau! Der strenge Stundenplan des Skigymnasiums ist nicht das Richtige für die Drei, mal kommen sie zu spät, mal kommen sie gar nicht. "Wenn ihr nicht pünktlich kommt, gibt es Straftraining!“ sagt Trainerin Ines, die nun auch zunehmend frustriert ist.
Plötzlich ist die Aufregung groß. Fatima und Fariba sind verschwunden. "Ich hatte wahnsinnige Angst, sagt auch Regisseurin Kancler, ich hatte ja Verantwortung für sie übernommen.“ War das vielleicht alles so geplant von den jungen Frauen? Sind sie überhaupt nur gekommen, um dann abzuhauen? "Ist ja nicht so ungewöhnlich“, meint Co-Betreuerin Ana. "Es passiert ja oft, dass einzelne Familienmitglieder nach Europa geschickt werden, um dann Geld zu senden und den Rest der Familie zu ernähren.“
Spätestens jetzt ist die gegenseitige Wahrnehmung nur noch von toxischen Klischees geprägt. Zakia scheint doppelt beschämt, von der Flucht ihrer Freundinnen und der Reaktion der Slowenen.
Bald darauf werden ihre beiden Freundinnen an der deutsch-österreichischen Grenze von der Polizei aufgegriffen, sie sind spontan mit einer Bekanntschaft aus dem Internet losgefahren. Das Vertrauen ist endgültig zerstört. Fatima, die Initiatorin der Flucht, muss heimreisen, Fariba – die noch minderjährig ist – darf vorerst bleiben. "Es tut mir leid“, sagt Fariba, "das war eine spontane Entscheidung. Wir wollten Afghanistan hinter uns lassen.“
Eine Parabel auf westliches Scheitern in Afghanistan?
Nachvollziehen kann Ines das alles nicht, der Versuch noch irgendetwas zu kitten, misslingt. Der Kulturaustausch wird zum culture clash in Reinkultur. Ines ist genervt, dass die Mädchen sich nicht besser anpassen, sich nicht anstrengen, um die Prüfung zur Skilizenz zu schaffen. Normalerweise trainierten Skischüler dafür sechs Stunden am Tag, bei ihnen sei nach spätestens eineinhalb Stunden Schluss. "Aber wenn ich nach Afghanistan reise, soll ich mich doch auch anpassen oder?? Muss ich dann keinen Schleier anziehen?“ Ein gemeinsamer Gang in eine Kirche bringt die bahnbrechende Erkenntnis: "Ihr habt den Koran, wir die Bibel.“
Der Kontakt mit den Mitschülern bleibt höflich aber distanziert. Es sind die Afghaninnen, die sich jetzt immer weiter abschotten. Sie fühlen sich abgewiesen und äußern das auch: Furchtbar unfreundlich seien die Leute hier, und überhaupt sei es zu Hause viel schöner. Die Freude am Skifahren ist schon längst dahin. Zakia wird immer depressiver und plötzlich ist sie die Nächste, die verschwindet. Und sie bleibt verschwunden, keine Spur von ihr, kein Lebenszeichen. Der Europatrip endet im Desaster. Auch Fariba muss nun abreisen. Sie erhält noch ein lieblos ausgedrucktes Zertifikat, dann fliegt sie ab.
"Man kann diesen Film wahrscheinlich sehr unterschiedlich sehen, je nachdem mit wem man sich identifiziert“, sagt Regisseurin Kancler. Als Opfer sieht sie ihre Protagonistinnen nicht, sondern als Akteure, die eigene Verantwortung für ihr Scheitern tragen. Das kulturelle Missverständnis, das gebrochene Vertrauen – der ganze Film erscheint im Rückblick der letzten Monate wie eine Parabel auf das gesamte politische Engagement Europas in Afghanistan. Im Moment der Krise waren beide Seiten enttäuscht: Die Afghanen, dass sie in der schwersten Stunde im Stich gelassen wurden; die Europäer, dass die Regierung und ihre über Jahre aufgebaute Armee sich den Taliban fast kampflos ergibt.
Allerdings wurde der Film von 2017 bis 2019 gedreht und 2021 abgeschlossen, also vor der Rückeroberung der Taliban und dem Ende der internationalen Präsenz. Im Oktober 2021 sind die Taliban auch in Bamyan zurück. "Ich war natürlich sehr deprimiert, als die Taliban die Macht übernommen haben“, sagt Kancler. Sie hatte große Sorge um alle Menschen, die sie im Rahmen der Dreharbeiten vor Ort kennengelernt hatte. "Fatima und Fariba konnten Afghanistan verlassen. Es stimmt mich aber auch sehr traurig, dass sie ihr Land verlassen mussten.“ Seit der Machtübernahme werden die Spielräume auch in der Provinz Bamyan immer enger. Der Bamyan Ski Club wurde geschlossen, aber es gibt Bemühungen, insbesondere die Bildung für Mädchen und Frauen auch unter schwierigen Bedingungen aufrecht zu erhalten. Die Zukunft bleibt ungewiss.
René Wildangel
© Qantara.de 2022