Frauenbefreiung in Kriegszeiten
Das Persönliche ist politisch – und umgekehrt. Nirgendwo wird diese Verbindung deutlicher als im vom Krieg zerstörten Norden Syriens. Auf politischer Ebene kommt es hier noch immer vereinzelt zu Gewaltausbrüchen. Regierungstruppen, der extremistische Islamische Staat (IS), kurdische und arabische Aufständische sowie verschiedene internationale Armeen kämpfen um ihren Einfluss in der Region. Die kurdisch geführten Demokratischen Kräfte Syriens (Syrian Democratic Forces) haben in dieser Region ihre Autonome Verwaltung Nordostsyrien aufgebaut.
Auf persönlicher Ebene werden sich derweil einige junge Frauen der tief verwurzelten patriarchalen Normen bewusst, die sie machtlos halten. Diese Frauen, auch wenn es nur wenige sind, lehnen sich gegen die Unterdrückung auf. Gleichzeitig kämpfen sie für mehr Basisdemokratie.
Das Zusammenspiel zwischen dem Persönlichen und dem Politischen hat die deutsche Filmemacherin Antonia Kilian 2016 in den Nordosten Syriens gezogen. Ihr ursprüngliches Ziel, die Stadt Manbij, gehört zu den Gebieten unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens, war aber zu diesem Zeitpunkt noch umkämpft. Die kurdischen Milizen waren zu dem Zeitpunkt dabei, den IS aus der Stadt zu vertreiben.
Deshalb war es zu gefährlich für Kilian, in Manbij einen Film zu drehen. Die Filmemacherin wurde an die rund 30 Kilometer entfernte Polizeiakademie für Frauen verwiesen, die auf der anderen Seite des Euphrats, ebenfalls im Kurdengebiet, liegt. Dort traf sie die 19-jährige Hala Mostafa. Sie war vor ihrem Vater geflohen, der sie mit einem IS-Kämpfer verheiraten wollte.
Polizistinnen sollen Frauen vor Gewalt schützen
Ein Jahr lang drehte Kilian ihren Dokumentarfilm. Er erzählt von Halas Erlebnissen während ihrer Ausbildung "auf der anderen Seite des Flusses“ und ihrer anschließenden Berufung nach Manbij. Ihre Aufgabe als Polizistin ist es, in einer Kurdish Women’s Protection Unit Frauen vor Gewalt schützen. Der Film zeigt ihre wachsende Entschlossenheit, sich für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen einzusetzen und konkret etwas für ihre neun jüngeren Schwestern zu tun.
Die Ausbildung der jungen Frauen an der Akademie umfasst körperliches Training und Unterricht über die Grundlagen der Polizeiarbeit. In der Akademie teilen die Lehrenden und Lernenden ihre Erfahrungen. Sie nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Eine Frau erzählt die erschütternde Geschichte einer jungen Frau, die von ihren eigenen Angehörigen und Familien aus der Nachbarschaft zu Tode gesteinigt wurde. Eine andere Frau warnt vor sexueller Ausbeutung: "Ein Mann ist nur an einer Nacht interessiert, um seine Lust zu befriedigen. Danach würde er dich sofort vor die Tür setzen, wenn er könnte.“ Eine Dritte sagt: "Die Ehe ist ein Instrument, um Frauen zu unterdrücken. Frauen sollen glauben, das sei ihr Schicksal.“
Hala saugt diese Aussagen auf und wird durch sie gestärkt. Als sie ihre Schwester Sosan überzeugen kann, sie auf die Akademie zu begleiten, ist das ein persönlicher Sieg – gegen den erbitterten Widerstand ihres Vaters. Für die Schwestern läuft es gut, zumindest für eine Weile.
Aber letztendlich gibt Sosan dem väterlichen Druck nach. Der Vater, der möglicherweise Verbindungen zum IS hat, erklärt Sosan, sie müsse zurückkommen und einer arrangierten Ehe zustimmen. So könne sie "die Schuld tilgen, die Hala über die Familie gebracht hat.“ Sosan willigt ein und wird mit einem Mann verheiratet, den ihr Vater ausgewählt hat.
Das Patriarchat schlägt zurück
Eine Szene kurz vor Sosans Hochzeit zeigt, mit welchen Folgen die Frauen rechnen müssen. Sosan sitzt in ihrer Hochzeitstracht im kleinen Hof ihrer Familie. Sie ist umgeben von ihren jüngeren Schwestern. Ein junger Mann, scheinbar ein IS-Kämpfer, platzt herein und schießt mit seiner Waffe mehrmals in die Luft. Er überbringt eine Botschaft: "Erzählt Hala, dass ihr Vater sagt, er könne sie mit einer Kugel erledigen.“
Hala lässt sich jedoch nicht entmutigen. Sie setzt ihre Polizeiarbeit in Manbij fort. Aber Sosans Entscheidung hat sie aufgebracht. Sie ist nun noch entschlossener, ihre anderen Schwestern vor dem Schicksal einer solchen Heirat zu bewahren. Darum trifft sie eine hitzköpfige und illegale Entscheidung: Sie versucht, ihre jüngeren Geschwister mit Gewalt aus dem Haus der Familie zu befreien. Dies bringt sie natürlich in Schwierigkeiten mit der Polizei, ihrer Arbeitgeberin. Hala verbringt mehrere Tage im Gefängnis. Es ist unklar, wie sich ihr Verhalten auf ihre Zukunft in der Polizei auswirken wird.
Die Polizistinnen versuchen mit ihrer Arbeit, die Botschaft der Emanzipation anderen Frauen nahezubringen. In einer Szene des Films ist zu sehen, wie eine Frau vor häuslicher Gewalt flieht. Sie sucht Hilfe bei der Polizei und erhält sie. Das ist eine der Verbindungen zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, die der Film zieht.
© E +Z/Entwicklung und Zusammenarbeit 2022
The Other Side of the River, 2021, Syria. Director: Antonia Kilian, Pink Shadow Films (Germany)