Passion Weltschmerz
Als "Hafız" bezeichnet man gewöhnlich eine Person, die den gesamten Koran auswendig rezitieren kann. Bei "Elektro Hafız" liegt der Fall jedoch anders: Er trägt tief sitzende, weite Bluejeans, Sneakers und eine schwarze Lederjacke. Um den Hals hat er sich eine schwarz-weiße Kufiya gewickelt, auf dem Kopf thront eine Baseball-Cap. Über seinen Schultern hängt ein jahrhundertealtes traditionelles Instrument: die Langhalslaute Bağlama, auch Saz genannt.
So auffallend wie sein Äußeres ist auch seine Musik. In seinem mit Dub-Rhythmen unterlegten Elektrosound finden sich Reminiszenzen an die Pioniere des sogenannten Anatolischen Rocks, Erkin Koray und Barış Manço, die erstmals mit ihren E-Gitarren orientalische Vierteltonmelodien spielten.
Gleichzeitig wohnt in ihr das klagende Leiden der Arabesque-Musik eines Müslüm Gürses inne, dessen radikale Fans von sich Reden machten, weil sie sich auf seinen Konzerten regelmäßig mit Rasierklingen die Haut aufritzten und am nächsten Tag blutüberströmt die Zeitungsseiten zierten – Weltschmerz will gelebt sein.
Suche nach dem Authentischen
"Ich suche immer nach dem Authentischen, dem Schmerz, der aus dem Inneren kommt", erzählt er in schnellem Stakkato und trommelt dabei mit den Fingern auf dem Tisch. Inspiration, erzählt er, findet er in allem was zur leichteren Kategorisierung unter der Sparte "Weltmusik" subsumiert wird: Russische Tavernenlieder, bulgarische Gitarre, indische Sitar, deutscher Nachkriegs-Krautrock, schamanische Klänge. Doch an erster Stelle rangiert bei ihm Müslüm Gürses, wegen seiner Interpretation. Und Neşat Ertaş, einer der berühmtesten Volksdichter der Türkei. Er sei "ein Philosoph der Musik".
Als Künstler würde er sich selbst nie beschreiben, sagt der Mann bescheiden, derseine Identität und sein Privatleben hinter seinem Künstlernamen versteckt, und zwischen schwarzem Tuch und schwarzer Cappy blitzen grünen Augen hervor. Das sei viel zu anmaßend. Vielmehr sei er jemand, der versuche, Musik zu machen. Und das Wort "Instrument" verstehe er in seiner ursprünglichen Bedeutung. Als "Werkzeug" oder "Hilfsmittel", mit dem er sein Publikum berühren will.
Renaissance der Arabesque-Musik
Die Arabesque-Musik der 1970er und 1980er Jahre sowie alte Filmschlager auf 45er Vinyl erleben seit einiger Zeit ein Revival. In Berlin hat DJ Ipek alte Schlager aus der Plattenkiste hervorgekramt und remixt, während in Istanbul Kabus Kerim einer von denen ist, der die alten Schlager mit neuen Beats unterlegt. Elektro Hafız lässt die alten Klänge auch in neuem Gewand erscheinen, schafft aber auch eigene Melodien.
Begonnen hatte alles in Istanbul. Hier ist er geboren und aufgewachsen und hörte sich schon als kleiner Junge durch die Schallplattensammlung des Vaters, der auch als Musiker aktiv war, vor seiner Zeit. Der Vater möchte, dass sein Sohn Klavier spielt, doch der hatte schon damals seinen eigenen Kopf und griff zur Gitarre, die er rockig, aber in der Form der orientalischen Vierteltonmusik Hicaz makamı spielt.
Mit seiner Band "Fairuz Derin Bulut" machte er 20 Jahre lang Musik und nahm drei Alben auf. Fünf junge Kerle, manchmal mit Schnurrbart und Sonnenbrille und Häkeldeckchen auf dem Schlagzeug, die eine Mischung aus Arabesque und Hard Rock in der Tradition von Musikern wie Erkin Koray spielen. Ihr Sound ist bestimmt von blecherner E-Gitarre zu jaulendem Keyboard wie auf türkischen Hochzeiten. Sie covern viel und schreiben ihre eigenen Lieder mit Retro-Sound, der an die psychedelische Phase der Beatles erinnert, und Nonsens-Texten mit Referenzen zu Kinderliedern und Schlagern.
Rückbesinnung auf das Heimische
Aus "privaten Gründen", soviel hat er der Öffentlichkeit preisgegeben, hat er vor einigen Jahren Istanbul verlassen und lebt nun in Köln. Mit dem Wegzug aus seiner Heimat kommt die Rückbesinnung auf das Heimische und gleichzeitig seine Neuorientierung. Er greift zu seiner Saz, die bislang nur in der Ecke stand, beginnt zu improvisieren und stößt auf Verwunderung – erst bei den Deutschen, die das Instrument nicht kennen.Ob das eine türkische Gitarre sei, was er da spiele. "Es ist zum einen keine Gitarre", erklärt er, "und zum anderen nicht türkisch. Dieses Instrument wird von Kurden, von Larsen am Schwarzen Meer sowie auf dem Balkan gespielt. Es ist das Instrument eines Bodens, nicht eines Volkes."
Dann eckte er bei den in Deutschland lebendenTürken an. Die Traditionalisten warfen ihm vor, er verderbe die anatolische Kultur. Doch wer Punk im Blut hat, schert sich nicht darum. Und die positive Resonanz lässt nicht lange auf sich warten. Die Kunstfigur des Elektro Hafız wird geboren, er tourt durch Deutschland, in europäische Nachbarländer und kürzlich zum erstan Mal in zurück nach Istanbul, mit neuer künstlerischer Identität.
Ekstatischer Tanz zu Volksreigen "Halay"
Das "Babylon" – ein Veranstaltungsort, indem internationale Künstler jenseits des Mainstreams spielen dürfen. Dort wo sonst die Istanbuler Avantgarde mit einer Flasche Bier in der Hand zu Rhythmen von "Oscar and the Wolf", dem österreichischen DJ Peter Kruder oder der düsteren Stimme der türkischen Sängerin Gaye Su Akyol wippt, brachte Elektro Hafız sein Publikum dazu, in den ekstatischen Volksreigen "Halay" auszubrechen – wohlgemerkt zu Elekrosounds.
Zuletzt stieß er beim Durchstöbern alter Musikschätze auf das Lied des türkischen Altrockers Cem Karaca auf Deutsch "Es kamen Menschen an", das mit Max Frischs Satz "Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an" beginnt. Und auf das Lied "Deutsche Freunde" der Band "Die Kanaken" um den Sänger Ata Canani. Das Thema reizte ihn. Es hat für ihn noch immer etwas Aktuelles. Er covert das Stück. Und betont: "Ich selbst bin kein Gastarbeiter und bin auch nicht deren Stimme. Aber ich bin immer auf der Seite der Unterdrückten. Ich bin ein Mensch und kämpfe für Menschenrechte." Und neben seiner Musik, erzählt er, arbeite er noch in sozialen Projekten mit Jugendlichen und Asylanten gegen Diskriminierung, Sexismus und Gewalt.
Im Frühling erscheint sein neues Album auf einem spanischen Label mit dem Titel "Elektro Hafız". Es ist quasi eine einzige lange Jam-Session, denn er hat es mit Freunden aus verschiedenen Ländern eingespielt. Zeigen möchte er damit: alles ist möglich und in Wirklichkeit gibt es keine Grenzen. Es bleibt also spannend.
Ceyda Nurtsch
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