"Stoppt Assads Bomben, dann gehen wir zurück"
Zwanzig Checkpoints musste Abou Adnan passieren, mit gefälschten Papieren. "Jedes Mal bleibt dein Herz stehen, weil du weißt, dass du jederzeit verhaftet werden kannst", schreibt der 26-jährige Mediziner für "The Syria Campaign", einen Aufruf der syrischen Zivilgesellschaft im Internet. Dass er es vor wenigen Wochen aus den östlichen Vororten von Damaskus bis nach Deutschland schaffte, grenzt an ein Wunder. Denn Ost-Ghouta ist eines der am stärksten vom Krieg gezeichneten Gebiete Syriens. Seit Jahren vom Assad-Regime abgeriegelt, 2013 mit Giftgas angegriffen, unter Dauer-Bombardement – "durchschnittlich acht Luftangriffe am Tag" zählte Abou Adnan.
Der angehende Chirurg gehört zu den mehr als 109.000 Syrern, die seit 2011 einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, genauer gesagt zu den etwa 34.000 jungen syrischen Männern, die in diesem Jahr illegal über das Mittelmeer und die Balkanroute gekommen sind. Viele Deutsche fragen sich, warum gerade jetzt so viele Syrer hierher drängen. Doch wer dieser Tage Europa erreicht, ist meist schon lange unterwegs. Als Vertriebener innerhalb des Landes auf der Suche nach Sicherheit, oder als Gestrandeter in den Nachbarstaaten auf der Suche nach einer Perspektive.
Beides haben die Syrer nicht gefunden. Auch weil die internationale Gemeinschaft zu wenig tut, um den Syrern ein (Über-)Leben in ihrer Heimat bzw. in der Region zu ermöglichen. Wer deshalb noch Ersparnisse hat oder einen Mann in der Familie, der unterwegs mit Schwarzarbeit das nötige Fluchtgeld verdienen kann, macht sich auf nach Westeuropa, denn dort gibt es sowohl Sicherheit als auch Zukunftsperspektiven.
Die ersten Flüchtlinge waren Aktivisten
So weit, so logisch. Um aber, wie Europas Politiker immer lauter fordern, die Ursachen der Flucht bekämpfen zu können, müssen wir genauer hinsehen.
Die ersten syrischen Flüchtlinge waren Aktivisten, die ab April 2011 in den Libanon oder nach Jordanien flohen. Sie brachten sich in Sicherheit, weil sie als Protagonisten der Revolution vom Assad-Regime beschossen, verfolgt, verhaftet und zu Tode gefoltert wurden. Größere Gruppen von Zivilisten setzten sich ab Februar 2012 in Bewegung, als das Regime damit begann, Wohnviertel zu bombardieren. Die ersten Raketen schlugen in Baba Amr ein, jenem Stadtteil von Homs, in dem auch die amerikanische Journalistin Marie Colvin und der französische Fotograf Remi Ochlik zu Tode kamen. Einen offenen Krieg, der ganze Straßenzüge, Stadtteile oder Orte verwüstet, gibt es in Syrien folglich seit dreieinhalb Jahren.
Seitdem sind von Monat zu Monat mehr Zivilisten auf der Flucht, zwölf Millionen Syrer gelten als vertrieben – mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung. Die meisten von ihnen, etwa acht Millionen, irren weiter durch das Land, was angesichts der faktisch geschlossenen Grenzen ringsum nicht verwundert. Mehr als vier Millionen haben es in die Nachbarländer geschafft und sich dort vom UNHCR registrieren lassen, die tatsächliche Zahl der Syrer im Libanon, in der Türkei und in Jordanien liegt deutlich darüber.
Angesichts dieser Belastung sind die Syrer dort nicht mehr willkommen. Sie dürfen nicht legal arbeiten, die meisten Kinder gehen nicht zur Schule (im Libanon 78 Prozent), sie vegetieren in wilden Camps ohne Wasser- und Stromversorgung (Libanon), schlagen sich mit Betteln und Schwarzarbeit in den Großstädten durch (Türkei) oder harren in isolierten Zeltstädten in der Wüste aus (Jordanien). Alles zu ertragen für ein paar Wochen oder Monate, aber für die nächsten Jahre, womöglich den Rest des Lebens?
Mit der sinkenden Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts und eine Rückkehr in die Heimat steigt der Wunsch nach einem Neubeginn anderswo. Hinzu kommen Erfolgsgeschichten – der Bruder in Frankfurt, eine Cousine in Wien, der Nachbar in Schweden, alle haben Asyl bekommen. Also weiterziehen, nach Europa.
Für Flüchtlinge, die direkt aus Syrien kommen, sind insbesondere die Türkei und der Libanon nur noch Transitländer. Syrien ist in vier Einflusszonen zerfallen, in denen 1. das Assad-Regime, 2. verschiedene Rebellengruppen, 3. die PKK-nahe kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) oder 4. der selbst ernannte "Islamische Staat" (IS) herrschen. Aus allen vier Gebieten kommen Syrer zu uns, allerdings aus verschiedenen Gründen.
Warum Menschen vor dem Terrorregime des IS fliehen, ist bekannt, allerdings kann man unter IS-Herrschaft durchaus leben so lange man Sunnit ist (wie die meisten Menschen im syrischen IS-Gebiet), sich an die schrecklichen Regeln hält und für einen stabilen Brotpreis persönliche Unfreiheit in Kauf nimmt.
Assads "Terror aus der Luft"
Tatsächlich ist in Syrien nicht der IS, sondern Assad der wichtigste Fluchtgrund. Das Regime tötet mit seiner Luftwaffe mindestens sieben Mal so viele Zivilisten wie der IS. Dieser "Terror aus der Luft", wie ihn zivilgesellschaftliche Gruppen nennen, zerstört all jene Gebiete, die von Rebellen – gemäßigten wie islamistischen – kontrolliert werden. Die Hilfsorganisation Ärzte Ohne Grenzen berichtet für August von "heftigen Bombardierungen an 20 aufeinanderfolgenden Tagen im belagerten Ost-Ghouta", wo sie 13 provisorische Untergrundkliniken unterstützt und wo auch Abou Adnan operierte. Jedes vierte Opfer – ob tot oder verletzt – war ein Kind unter fünf Jahren. Der angehende Chirurg will endlich "normale Operationen lernen statt Granatsplitter aus Kinderbeinen zu ziehen", deshalb ist Abou Adnan in Deutschland.
Wer den Luftangriffen des Regimes entkommen möchte und es nicht über die Grenzen schafft, rettet sich entweder in die kurdischen PYD-Gebiete im Norden oder paradoxerweise in Assads Kernland – das Zentrum von Damaskus oder die Küstenprovinzen Lattakia und Tartous. Diese werden zwar von Rebellen mit Raketen angegriffen und vereinzelt explodieren Bomben des IS, aber im Vergleich zu den Fassbomben des Regimes sind sie deutlich sicherer.
Dafür werden die Menschen dort von lokalen Shabiha-Milizenführern drangsaliert und von den Geheimdiensten überwacht. Stillhalten und den Kopf einziehen sind deshalb die wichtigsten Überlebensstrategien in den von Assad kontrollierten Regionen.
Allerdings regt sich unter Assad-Unterstützern zunehmend Unmut, vor allem unter den Alawiten, der Konfessionsgruppe, zu der auch der Assad-Clan zählt. Zu viele Söhne haben die Alawiten für den Machterhalt Baschar al-Assads geopfert ohne etwas dafür zu bekommen. Im Gegenteil, sie fühlen sich vom IS oder von radikalen Rebellengruppen bedroht, während Assad selbst nur noch mit Hilfe des Iran und der libanesischen Hisbollah überlebt.
Flucht vor Zwangsrekrutierung
Die Tatsache, dass Russland an der Küste einen Militärflughafen ausbaut und Material und Soldaten schickt, dient als weiterer Beweis dafür, dass Assad das Gebiet nicht mehr schützen kann. Seine Armee ist am Ende, auch weil sich das Regime wenig um gefangen genommene oder von Rebellen eingeschlossene Soldaten kümmert, was das Gefühl verstärkt, Assads Kanonenfutter zu sein. Gerade junge Alawiten flüchten deshalb vor Zwangsrekrutierung nach Europa.
Vor dem Militärdienst fliehen auch Kurden aus Qamishli und anderen Orten der von der PYD verwalteten Region Rojava. Seitdem Männer zwischen 18 und 35 Jahren bei den Volkverteidigungseinheiten gegen den IS mitkämpfen müssen, verlassen viele das Land. Afrin, der westlichste der drei kurdischen Kantone, hat deshalb sogar ein Ausreiseverbot verhängt. Denn wenn immer mehr syrische Araber in Afrin Schutz vor Assads Bomben suchen und zugleich die syrischen Kurden weggehen, fürchtet die PYD einen demographischen Wandel zu Ungunsten der Kurden.
Was also ist zu tun, damit die Syrer zuhause bleiben bzw. dorthin zurückkehren? Laut Abou Adnan haben die meisten seiner Landsleute nur einen Wunsch: Schutzzonen, die Leben retten und vielen eine Rückkehr ermöglichen würden. "Ich wäre der erste, der im Flugzeug nach Hause säße", sagt der 26-Jährige.
Kristin Helberg
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