"Sexploitation" im 15. Jahrhundert
Etwa ein Jahrzehnt, nachdem der berühmte Orientalist Richard Burton Mohammad an-Nafzawis The perfumed Garden of Sensual Delight (1886) (dt. Der parfümierte Garten, 2004) ins Englische übersetzt hatte, machte sich ein anonymer Übersetzer daran, eine weitere kontroverse und rätselhafte Schrift für englischsprachige Leser aufzubereiten und kritisch zu bewerten, das Kitab al-Izah fi'ilm al-Nikah b-it-Tamam w-al-Kamal oder Book of Exposition, eine Sammlung von Erotica aus dem 15. Jahrhundert.
Lange war unter Wissenschaftlern im Westen wie in Nahost umstritten, von dem das Werk stammte. Heute wird The Book of Exposition praktisch einhellig dem ägyptischen Gelehrten Dschalal ad-Din as-Suyuti (1445-1505) zugeschrieben. As-Suyuti, heute vielleicht am besten als Mitverfasser von "Tafsir al-Dschalalain" (Tafsir der beiden Dschalal) bekannt, einer klassischen sunnitischen Koran-Auslegung, war nebenbei ein sehr produktiver Verfasser erotischer Geschichten, der mindestens 23 Abhandlungen über verschiedene Aspekte praktizierter Sexualität geschrieben hat.
Rühren an sexuellen Tabus der islamischen Kultur
Die zwei Dutzend teils obszönen, teils aufreizenden Episoden sollen die Phantasie der Leser anregen. Teilweise durchaus explizit und in vulgärer Sprache verfasst, befassen sich Geschichten wie "Die seltsame Umwandlung, die dem Stachel eines gewissen Gläubigen widerfuhr" mit den sexuellen Tabus der islamischen Kultur.
In dieser Erzählung wünscht sich ein Mann von Allah, er möge ihn von seiner Erektionsstörung heilen, und sein Gebet wird erhört. Doch als seine Frau in der "Nacht der Allmacht" (Lalyat al-Qadr) mit der neuerstandenen Potenz ihres Mannes konfrontiert wird, erklärt sie ihm ohne Umschweife, "wenn deine Waffe so weitermacht, musst du gegen mich das Wort der Scheidung aussprechen, und mich gehen lassen", denn der Penis ist nun "gerade wie eine Säule, die weder Biegsamkeit aufweist noch zu geschmeidiger Beweglichkeit imstande ist, noch zur Ruhe". Es versteht sich von selbst, dass der Mann von seiner "Nacht der Allmacht" nicht viel hatte.
Olivenölverkäufer, Prostituierte und Bauern als Protagonisten
Andere Geschichten, wie "Die fromme Frau und was ihr von hinten geschah", sind, was den Inhalt betrifft, recht unzweideutig. Die Geschichten sind unterschiedlich lang, ihr Umfang reicht von ein paar Sätzen bis zu mehreren Seiten, aber alle zeugen in sexueller Hinsicht von freizügigem Denken. Mit ihrem prosaischen Alltagsbezug und ihrem häuslichen Ambiente erinnern sie an die britischen Sexploitation-Filme aus den 1960er und 1970er Jahren, die es den Zuschauern alltagsnahe Sex-Szenen vorführten, nur agieren hier nicht der verliebte Milchmann und der Fensterputzer, sondern der Olivenölverkäufer, die Prostituierte und der Bauer.
Mit dreihundert Exemplaren bemühte sich der Übersetzer – der sich hinter dem Pseudonym "ein englischer Bohemien" verbarg –, das Werk kritisch zu bewerten und in seinen historischen und literarischen Kontext einzuordnen. Neben dem ausführlichen Vorwort enthält die Ausgabe einen umfangreichen Teil mit dem Titel "Exkurse", der weitere kurze Erotica, Anmerkungen und Kommentare enthält, darunter ein Essay über Päderastie von Richard Burton (das auch in seiner 1885 erschienenen Übersetzung der 1001 Nächte enthalten war).
Die erste Ausgabe des Book of Exposition erschien mitten in der Belle Epoque, zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges (1870-1871) und dem Beginn des Ersten Weltkriegs (1914). Frankreich, und Westeuropa überhaupt, strotzten vor Optimismus, und pan-europäische Gedanken verbreiteten sich auf dem gesamten Kontinent. Die Einstellung zur Sexualität jedoch blieb im Wesentlichen konservativ.
Der Umgang mit Sexualität war verklemmt und schuldbeladen – Masturbation, glaubte man, schade der körperlichen und geistigen Gesundheit, und Geschlechtsverkehr wurde im Allgemeinen als klinischer Akt gesehen, der nicht von der Norm abweichen durfte. Eine verbreitete Vorstellung besagte, dass die männliche Ejakulation außerhalb der Ehe durch "Spermatorrhö" verursacht wurde, und Männer, die eine solche Diagnose erhielten, wurden zur Beschneidung oder Kastration gezwungen oder mussten einen Keuschheitsgürtel tragen, eine Art Rüstung ausschließlich für den Penis.
Die Polarisierung der weiblichen Sexualität
Die weibliche Sexualität wurde häufig polarisiert – Frauen waren entweder engelsgleich oder monströs. Das Frauenbild des viktorianischen Zeitalters, in dem Zerbrechlichkeit und Reinheit eine große Rolle spielten, wurde in dem Klischee des "Engels im Haus" zelebriert - einem Bild, das 1854 durch das gleichnamige Gedicht von Coventry Patmore populär wurde ("The Angel in the House"). Die Frau im Haus wurde auf einen Sockel gestellt, und ihre Sexualität war pragmatischer Natur.
Das monströse Weib dagegen war ein Gefäß für männliche Genüsse, und ihre "Promiskuität" wurde häufig als Symptom für etwas Krankhaftes, Verderbtes angeführt, das dem Weiblichen angeblich anhaftete. Die Hypersexualisierung der Orientalin war nicht selten eine rhetorische Strategie, mit der das engelsgleiche Wesen ihres abendländischen Gegenparts noch stärker hervorgehoben wurde.
In seinem 1979 erschienenen, bahnbrechenden Werk "Orientalism" (dt. Orientalismus, 1981) kritisiert Edward Said die oben genannten Autoren, weil sie die Grundlagen für die unheilvolle Dichotomie von abendländischer und morgenländischer Kultur geschaffen hätten.
Edward Said: Europas Institutionalisierung von Sexualität
Europa leide, so Said, unter einer "zunehmenden Verbürgerlichung", was sich in der Institutionalisierung von Sexualität äußere; der Orient dagegen sei offenbar zu einem Ort geworden, an dem man freizügige sexuelle Erfahrungen machen konnte, die einem im Westen verwehrt waren.
In seinem Eröffnungsessay und Kommentar präsentiert der "englische Bohemien" die "orientalische Sexuologie" als mystische Alternative für angehende Freigeister/Hedonisten. Dabei stellt er einige höchst gewagte Thesen auf, die so kühn sind, dass man ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen muss.
Er vergleicht – bzw. kontrastiert – die Einstellung des Orients und des Westens zu Sexualität, Ehe und Polygamie. "Der Harem ist weit davon entfernt, ein Gefängnis für die Ehefrauen zu sein, er ist ein Ort der Freiheit, in dem der Ehemann selbst als Eindringling betrachtet wird". Der Harem wäre demnach ein Ort, der Frauen ermächtigt und befreit, und nicht der "Auslöscher der Liebe", als der er im Westen gesehen wird; auch mit regressiven Denkmustern solle er nicht in Verbindung gebracht werden.
Doch es ist schwer einzuschätzen, ob der "englische Bohemien" seine eigenen Behauptungen tatsächlich glaubte; die Überhöhung des Orients, die darin zum Ausdruck kommt, scheint manchmal eher von dem Wunsch motiviert zu sein, gegen das herrschende Establishment in der eigenen Kultur zu rebellieren, als von dem Bestreben, ein nuanciertes Bild der fremden Kultur zu zeichnen.
Bunte Methodenvielfalt
Der "englische Bohemien" beschränkt sich bei seinen Recherchen zur Sexualität aber nicht auf den Orient. Er bietet Einblicke in die sexuellen Sitten und Gebräuche anderer Länder, die er als Mediziner bereist und erforscht haben will: von Loango bis zu den Azteken, von Paraguay bis Samoa, von Europa bis Arabien reichen seine Auslassungen über die unterschiedliche Bedeutung, die dem Verlust der (weiblichen) Jungfräulichkeit zugeschrieben wird. Die bunte Methodenvielfalt, die er zur Datenerhebung angewandt hat, mag heute überholt erscheinen, seine Schlussfolgerung jedoch klingt erstaunlich modern:
Würden die Männer bei der Auswahl ihrer Lebensgefährtin der Jungfräulichkeit des Herzens und der Reinheit der Seele mehr Bedeutung beimessen, statt mit so viel fehlgeleiteter Neugier auf die Blutflecken auf den Bettlaken oder in der Unterwäsche zu starren, wie viel weniger Enttäuschungen würden sie in der Ehe erleben, und wie viel mehr echtes Glück!
Der "englische Bohemien" fühlte sich aufgrund der reizvollen Texte, die er so schätzte, stark zum Orient hingezogen, was ihn dazu veranlasste, The Book of Exposition ins Englische zu übersetzen, obwohl es wenig mehr ist als eine Sammlung pikanter Geschichten.
Auch wenn man die Einleitung, die zahlreichen Fußnoten oder den Wert der Sammlung für die Literaturkritik außer Acht lässt, ist The Book of Exposition eines der besten literarischen Beispiele für die Absurditäten, denen man gelegentlich in einem einst blühenden und gleichzeitig sehr problematischen Forschungsbereich begegnen kann.
Sherif Dhaimish
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Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff