Vom Flüchtlingsboot in die Bundeskunsthalle
Wer Raisan Hameed jetzt trifft, kann es kaum glauben: Der zurückhaltende junge Mann, der im Oktober 2016 seinen ersten Tag als Student an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig hatte, steht heute in der belebten Eisenbahnstraße in Leipzig und spricht vor einer kleinen Menschenmenge über seine Werke, die jetzt in einer Art Open-Art-Galerie hängen.
In fließendem Deutsch stellt der Fotografie-Student zwei seiner Arbeiten vor, ein Dutzend Besucher hört ihm interessiert zu.
Vor vier Jahren hat die DW Raisan in Leipzig besucht. Der irakische Geflüchtete war gerade an der Hochschule in Leipzig zugelassen worden. An dem Tag wurde an der HGB die "Akademie für Transkulturellen Austausch" eröffnet - ein Sonderprogramm für geflüchtete Studenten, die zwei Jahre lang auf das Studium an der Hochschule vorbereitet werden sollten.
Raisan war im ersten Jahrgang, der an jenem Herbsttag in 2016 anfangen sollte. Es gab eine große Eröffnungszeremonie. Vertreter von Politik, Medien und die gesamte Hochschule waren anwesend. "Ich war an dem Tag etwas nervös", erzählt Raisan jetzt in der Rückschau. "Ich war gerade mal ein Jahr in Deutschland, konnte kaum Deutsch, und wir, die Neuen, standen im Mittelpunkt und alle schauten auf uns.”
Raisan war gerade aus der relativen Überschaubarkeit eines Flüchtlingsheims in die große Welt der renommierten Kunsthochschule katapultiert worden. Damals war er Mitte zwanzig. Ihm habe das damals Respekt eingeflößt, sagt er heute.
Aus Mosul über Schleswig-Holstein nach Leipzig
Der irakische Flüchtling ist im denkwürdigen Spätsommer 2015 nach Deutschland gekommen. Ein Jahr zuvor musste er und seine Familie ihre Heimatstadt Mossul verlassen, als der sogenannte "Islamische Staat" (IS) die Stadt eroberte. Damals hatte Raisan an der Kunsthochschule in Mossul Fotografie studiert und nebenbei als Foto-Journalist und Kameramann für mehrere Medien gejobbt.
Sein Studium konnte er in Mossul nicht abschließen. Und im Irak zu bleiben war unmöglich. Die bewaffneten Milizen machten Jagd auf Künstler und Journalisten. "Ich musste da raus. Ein Freund von mir wurde geschlagen, ein anderer erhängt. Es war furchtbar für mich, meine eigene Stadt brennen zu sehen."
Ohne seine Familie verließ Raisan den Irak. Auf einem der überfüllten Flüchtlingsboote machte er die gefährliche Überfahrt von der Türkei nach Griechenland und erreichte ein paar Wochen später Deutschland über die sogenannte Balkanroute. Sein erstes Jahr verbrachte er in einem Heim in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Owschlag. Am Anfang habe er sehr gelitten, weil er kein Deutsch konnte, erzählt er.
Aber im kleinen Owschlag fand er schnell Anschluss und lernte eine Frau kennen, die ihm ehrenamtlich half, sich einzuleben und die Sprache zu lernen. "Sie war wie eine Mutter für mich. Sie, ihr Mann und ihre Kinder haben mich herzlich aufgenommen. Sie haben mir sogar ein extra Zimmer in ihrem Haus eingerichtet und sagten: Wenn du nicht im Flüchtlingsheim schlafen willst, kannst du gerne bei uns übernachten."
Seine Gastmutter begleitete ihn zu den Ämtern, half ihm beim Deutschlernen und zeigte ihm das Land. Vor allem teilte sie mit ihm die Leidenschaft für Fotografie. Immer wieder gingen sie zusammen fotografieren. "Sie hat mich als Mensch und meine Geschichte verstanden und mich aufgenommen, so wie ich bin."
Immer war es der Kontakt zu Menschen, der Raisan das Einleben und die Integration erleichterte. Als er nach Leipzig ging, fand er in seiner Wohngemeinschaft schnell Anschluss. "Es war eine schöne Zeit. Wir haben vieles miteinander unternommen." Die WG half ihm bei Hausaufgaben auf Deutsch und beim Briefeschreiben.
Von den Mitbewohnern konnte er einiges über die deutsche Kultur lernen, aber ihnen auch vieles über den Irak und seine Kultur erzählen. Mittlerweile wohnt er alleine, weil er mehr Platz und Ruhe für sein Studium braucht, aber er hat sehr viele Freunde und Freundinnen, die meisten von ihnen sind Deutsche.
Anfeindungen im deutschen Alltag
Trotzdem - während dieser Zeit war nicht alles schön, berichtet der heute 29-Jährige. Denn er machte auch unangenehme Erfahrungen mit rassistischen Übergriffen in Deutschland, meistens in öffentlichen Verkehrsmitteln. Wörter wie "Sch... Araber" oder "Sch... Ausländer" seien gefallen, erzählt er.
"Einmal hat sogar jemand zu mir 'Du Schwarzbart!' gesagt", sagt er und lächelt ein wenig. Doch lustig findet er das eigentlich nicht. Denn diese rassistischen Beleidigungen "haben mich sehr geärgert und verletzt", so Raisan.
Von solchen Erlebnissen ließ er sich dennoch nicht beirren. Er nutzte die zwei Jahre an der Akademie in Leipzig, um die Sprache zu lernen und sich auf das weitere Fotografie-Studium an der HGB vorzubereiten. Der Anfang war nicht einfach: "Ich saß mit anderen Studenten in Fotografie-Klassen und musste Fotos auf Deutsch besprechen. Das war schon schwer. Aber nach und nach ging es."
2018 schloss Raisan die Vorbereitungskurse ab und ist seitdem ordentlicher Student im Fach Fotografie. Und das sehr erfolgreich. Immer wieder nimmt er mit seinen Arbeiten an Ausstellungen teil: Seine Werke wurden in Leipzig, Berlin, Rotterdam und sogar am Arabischen Golf, in Maskat, Dubai und Schardscha gezeigt.
Besonders glücklich ist Raisan aber über seine Teilnahme an einer Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn. Seine Augen strahlen, wenn er erzählt, dass seine Werke jetzt in einem "richtig großen Museum" hängen.
Ein zentrales Motiv in seinen Bildern ist seine traumatische Fluchterfahrung: "Ich versuche, meine Erlebnisse zu verarbeiten, um sie loszuwerden, damit sie mich nicht mehr belasten.” Der irakische Geflüchtete will dadurch auch den Rassismus bekämpfen und "die Augen der Menschen für etwas öffnen, das sie noch nie mit eigenen Augen gesehen haben."
Angekommen nach einem schwierigen Weg
Fünf Jahre sind seit Raisans Ankunft in Deutschland vergangen. Hat er es geschafft? Er denkt lange nach, bevor er diese Frage beantwortet. Nein, als Künstler habe er es noch nicht ganz geschafft. Noch fehle ihm der Durchbruch, der ganz große Wurf, der viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und auf der persönlichen Ebene?
Fünf Jahre seien eine lange Zeit, antwortet Raisan. Er habe viele schöne, aber auch unschöne Sachen erlebt. "Ich habe einen schwierigen Weg hinter mir, aber ich bin angekommen. Ich lebe in einer Stadt, die mich aufgenommen hat. Die Hochschule hat mir die Möglichkeit gegeben, meinen Traum vom Weiterstudieren zu erreichen. Ja, ich kann sagen, dass ich es geschafft habe."
Sich auf den Lorbeeren auszuruhen will der Fotografie-Student dennoch nicht. In einem Jahr möchte er schon sein Studium abschließen, um endlich - auch international - durchstarten zu können, sagt er. Als Fotograf möchte er viel reisen. Nicht selten aber bleiben ihm Chancen verwehrt - denn häufig bekommt er wegen seiner irakischen Staatsbürgerschaft und seines Flüchtlingsstatus kein Visum.
Am meisten schmerzt ihn aber die lange Trennung von seinen Eltern, die im Irak geblieben sind und die er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Besonders vermisst er seine Heimatstadt Mossul, wo er als junger Mann in den Gassen der Altstadt sich selbst das Fotografieren beibrachte.
Aber er sei optimistisch, sagt Raisan Hameed und wirkt sehr entschlossen, Erfolg zu haben. Das Scheitern, so scheint es, ist für ihn keine Option. Auf seinem bisherigen Weg hätten ihm viele Menschen geholfen, resümiert er. "Deutschland hat mir etwas gegeben. Ich will das irgendwann auch zurückgeben."
Nader Alsarras
© Deutsche Welle 2020