Warten auf Cholot
Ende letzten Monats wurden 1.200 Asylbewerber aus Cholot entlassen, einem mitten in der Wüste Negev gelegenen „offenen“ Internierungslager, das im Dezember 2013 eingerichtet wurde. Doch schon Tausenden anderen droht im Zuge neuer und erweiterter Kriterien die Internierung.
Grund dafür ist eine Entscheidung des obersten israelischen Gerichtshofs. Demnach dürfen Asylbewerber höchstens zwölf Monate in Cholot festgehalten werden. Allerdings kann jetzt jeder männliche Flüchtling, der in Israel keine Familie hat, interniert werden. Nach Angaben von Aktivisten wurden bereits Hunderte aufgefordert, sich in Cholot zu melden. Derzeit halten sich in Israel schätzungsweise 42.000 Flüchtlinge auf, die meisten davon aus dem Sudan und aus Eritrea. Die israelische Regierung bezeichnet diese Menschen als "illegale Eindringlinge". Zu deren Abwehr wurde 2013 ein Sperrzaun an der ägyptischen Grenze hochgezogen – für 400 Millionen US-Dollar.
Nirgendwo eine Zuflucht
Am Tag der Freilassung aus Cholot fragt sich der 28-jährige Nor Tok aus dem sudanesischen Darfur, wohin er gehen könne. Vor seiner 18 Monate langen Internierung lebte und arbeitete er sechs Jahre in Israel. Gepflegt in Hemd und Jeans gekleidet schaut er zu, wie Hunderte seiner ehemaligen Mitinsassen in Busse zur nächstgelegenen Stadt Be'er Scheva steigen. Andere wiederum halten sich vor den stacheldrahtgesicherten Toren der Einrichtung auf – ohne Plan, ohne Geld und ohne Ziel.
Das bei der Entlassung ausgehändigte und für zwei Monate gültige Übergangsvisum untersagt ihnen Arbeit und Wohnsitz in zwei israelischen Städten: Tel Aviv und Eilat. Menschenrechts- und Flüchtlingshilfegruppen forderten die Regierung auf, die Sperrklausel aufzuheben, die ihrer Meinung nach eine gesetzeswidrige Beschränkung der Freizügigkeit von Flüchtlingen darstellt.
"Ich habe Freunde in Tel Aviv, die mir helfen könnten. Doch ich darf mich dort nicht aufhalten. Ich bin pleite", sagt Nor Tok. Internierte können Cholot tagsüber verlassen, müssen aber zum Nachtappell um 22 Uhr zurück sein. Arbeiten dürfen sie nicht.
Den Flüchtlingen aus dem Sudan und Eritrea waren die vernachlässigten Stadtviertel im Süden von Tel Aviv seit fast einem Jahrzehnt ein Zuhause. Einige arbeiteten auch in der Tourismusbranche in der Stadt Eilat am Toten Meer.
"Cholot soll den Menschen ihre Hoffnung rauben. Man will ihnen das Leben schwer machen, damit sie aufgeben und das Land verlassen", erzählt Nor Tok.
Regierungsabkommen mit Ruanda und Uganda
In Cholot wird den Flüchtlingen angeboten, in eine sogenannte "freiwillige Rückreise" einzuwilligen. Wer unterschreibt, erhält einen einmaligen Zuschuss von 3.500 US-Dollar. Die Regierung verfolgt offiziell das Ziel, die Menschen in ein Drittland zu bringen. Im Laufe der Jahre hat die israelische Regierung Berichten zufolge Abmachungen mit afrikanischen Ländern getroffen – beispielsweise mit Ruanda und Uganda – wonach diese Länder im Austausch gegen Flüchtlinge Rüstungsgüter und militärische Ausbildungshilfe erhalten.
Nach den jüngst bekannt gewordenen Zahlen wurden im Rahmen dieser Regelung 4.608 Asylsuchende aus Israel in den Sudan zurückgebracht und 1.059 nach Eritrea. Dies verstößt gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Diese verbietet die Ausweisung in Länder, in denen das Leben der Flüchtlinge bedroht ist.
Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass eine Ausreise infolge von Entrechtung nicht freiwillig sein kann. Sie haben dokumentiert, dass Flüchtlinge, die nach Ruanda oder Uganda gebracht wurden, anschließend in ihre Ursprungsländer abgeschoben wurden. Anderen Flüchtlingen wurden die Reisedokumente bei der Ankunft abgenommen, sodass sie ihren Rechtsstatus verloren.
Der Konflikt in Darfur geht weiter. Regierungskräfte schlugen dort im Jahr 2014 und 2015 zwei Aufstände nieder. Nach einem im September veröffentlichten Bericht von "Human Rights Watch" droht Zivilisten Folter, außergerichtliche Tötung und Massenvergewaltigung. Ganze Gemeinschaften wurden zwangsumgesiedelt.
Trostloser Ausblick
"Ich habe Hebräisch gelernt und wollte Jura studieren", berichtet Tok. "Doch [die Regierung] unternimmt alles, um uns aus der Gemeinschaft und Gesellschaft auszuschließen. Jetzt muss ich nach achtzehn Monaten im Lager wieder ganz von vorne beginnen", so der Sudanese aus Darfur, der den Lärm der über uns fliegenden F-16-Jets kaum ertragen kann. Cholot befindet sich mitten in einem militärischen Schießübungsgebiet.
Zwei Wochen später fand Nor Tok Arbeit in einer Fabrik. Er wohnt jetzt in einer Industriestadt unweit von Tel Aviv.
"In den nächsten Monaten werden immer mehr Menschen nach Cholot geschickt. Man holt Menschen, die arbeiten, eine Ausbildung machen und ihre Krankenversicherung zahlen. Diese Menschen werden aus ihrem vertrauten Leben herausgerissen und verlieren alles. Das ist ein Kreislauf", erklärte Elisheva Milikovsky, Leiterin der Abteilung Wanderarbeiter und Flüchtlinge der nichtstaatlichen Organisation "Physicians for Human Rights Israel", gegenüber Qantara.de.
"Das UN-Flüchtlingshilfswerk betrachtet Israel als entwickeltes Land, das zum Asylprozess beitragen könnte und sich der Flüchtlinge annehmen sollte", ergänzte Milikovsky. "Das UNHCR bearbeitet aber keine Asylanträge, sondern überwacht lediglich den Prozess. Es bietet nur Menschen eine Umsiedlung an, die sehr krank sind und in Israel nicht angemessen behandelt werden können oder andere humanitäre Gründe vorweisen können."
Israel entzieht sich seiner Verantwortung
Israel hat bislang weniger als ein Prozent der Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan anerkannt. Weltweit liegt die Anerkennungsrate bei 90 bzw. 67 Prozent. Sudanesische Bewerber erhalten normalerweise nicht einmal eine Antwort auf ihren Asylantrag. Mehrere Eritreer wurden mit der Begründung abgelehnt, Israel erkenne Desertieren aus der eritreischen Armee nicht als Grund an.
"In Eritrea wollte man mich ins Gefängnis stecken. In Israel ist es das Gleiche. So gesehen hat sich in meinem Leben nichts geändert", berichtet Simon, ein ruhiger Mann von Mitte 30, der als Wehrpflichtiger in Eritrea eingezogen wurde und dann zehn Jahre lang als Lehrer in einer Militärakademie für ganze 25 Dollar monatlich arbeiten musste. Laut Gesetz beträgt die Wehrpflicht in Eritrea 18 Monate. In der Praxis kann sie allerdings beliebig lang sein.
Im Juni 2015 befand ein Untersuchungsausschuss der Vereinten Nationen zu Eritrea, dass Zwangsarbeit unter dem Deckmantel einer unbefristeten Wehrpflicht im Land weit verbreitet ist, und zwar in Verbindung mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen, "die in Anzahl und Ausmaß fast beispiellos sind."
Simon wurde in Cholot einbestellt, meldete sich dort nicht und verlor daher seine Arbeitserlaubnis. Diese muss alle ein bis vier Monate verlängert werden. Heute arbeitet er inoffiziell und unregelmäßig als Lehrer in Tel Aviv und ist zudem ehrenamtlich als Englischlehrer tätig.
"Was könnte ich dort in Cholot schon machen? Hier kann ich meiner Gemeinschaft zumindest helfen. Unsere Regierung möchte uns isolieren: In Eritrea haben wir kein Internet und die Universität wurde bereits im Jahr 2000 geschlossen. Dabei ist Bildung doch das Allerwichtigste.... Wenn ich zur Arbeit gehe, gehe ich aus Angst erst einmal um das Gebäude herum. So kann man doch nicht weiterleben – immer auf der Flucht."
Ylenia Gostoli
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers