Das Patriarchat bröckelt

Von Frauen in der arabischen Welt wird verlangt, sich patriarchalen Traditionen zu unterwerfen.
Von Frauen in der arabischen Welt wird verlangt, sich patriarchalen Traditionen zu unterwerfen.

In Bezug auf Geschlechtergleichstellung sieht es für Frauen in der arabischen Welt nicht gut aus. Es herrschen vielerorts immer noch Gesetze vor, die Frauen erheblich diskriminieren und die nicht im Einklang stehen mit den internationalen Verträgen, die diese Länder unterzeichnet haben. Von Mona Naggar

Von Mona Naggar

Außer Somalia und Sudan haben alle arabischen Länder die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women – CEDAW) ratifiziert. Allerdings haben die meisten arabischen Staaten weder alle Artikel ratifiziert noch in nationales Recht übernommen (UNESCWA 2018). 

In der Tat bevorzugen die Gesetze ganz deutlich den Mann. Sie definieren in den meisten arabischen Ländern Männer als Oberhaupt der Familie. Erbschaftsgesetze bevorzugen die männlichen Familienmitglieder. Personenstandsgesetze, die oftmals noch von religiösen Regeln beherrscht werden, erschweren die Scheidung für Frauen und benachteiligen sie bei dem Sorgerecht für ihre Kinder. Frauen dürfen in den meisten arabischen Ländern ihre Nationalität nicht an ihre Kinder oder Ehemänner weitergeben. Sie haben beschränkten Zugang zu Geld. Rechtliche Hürden machen es Frauen schwer, gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilzunehmen. In der Politik sind sie stark unterrepräsentiert.

Diskriminierende Gesetze spiegeln patriarchale Geschlechternormen wider, die in der Gesellschaft vorherrschend sind und in der Familie ihren Anfang nehmen. Es ist eine Verzahnung dieser beiden Ebenen – Gesetze und konservative Traditionen, die ein Geflecht von sichtbaren und unsichtbaren Regeln um die Frauen spannen, die ihr Leben stark beeinflussen und ihre Entscheidungsfreiheit einschränken.

Von Frauen in der arabischen Welt wird verlangt, sich patriarchalen Traditionen zu unterwerfen

Traditionen sind nirgends aufgeschrieben, sondern werden vorgelebt, und von den Familienmitgliedern wird erwartet, dass sie sie weitertragen. Ein ungeschriebenes Gesetz beispielsweise ist die Erwartung, dass Frauen in jungen Jahren heiraten und dass ihr größter gesellschaftlicher Beitrag darin liegt, als Mutter und Hausfrau für ihre Familie zu sorgen. Stets soll die Familie Priorität haben, auch wenn Frauen berufstätig sind.

Der 25-jährige saudische Aktivistin Manahel al-Otaibi geht am 2. September 2019 in der al-Tahliya-Straße in der saudischen Hauptstadt Riad spazieren (Foto: AFP/Getty Images/FAYEZ NURELDINE)
Zäher Wandel: Der Wandel ist im Gange, auch wenn er oft kaum spürbar ist. Bessere Bildungschancen, Urbanisierung, neue Rollenmodelle und Frauenrechtsaktivismus haben etwas bewirkt. Einigen Frauen gelingt es, ein unabhängiges Leben zu führen, obwohl sie in konservativen muslimischen Familien aufgewachsen sind. Die meisten schätzen die Traditionen, haben aber gelernt, pragmatisch mit den Glaubensnormen umzugehen. Andere, wie die saudische Aktivistin Manahel al-Otaibi (hier im Bild), sind bereit, sich dem Patriarchat offen zu widersetzen

Nach außen wird die Familie vom Vater repräsentiert. Er ist wirtschaftlich verantwortlich für sie, aber auch für ihren guten Ruf. Diese Stellung des Mannes rechtfertigt seine Autorität und die Kontrolle der weiblichen Familienmitglieder.

Dass Männer bei sogenannten Ehrenmorden an weiblichen Familienmitgliedern in vielen arabischen Gerichten straffrei oder mit geringer Strafe davonkommen, hat mit diesen Traditionen zu tun.

Angesichts dieser ernüchternden Realität, werden positive Familientraditionen, die Mädchen und Frauen stärken, und Veränderungen in Richtung Emanzipation leicht übersehen. Es gibt Traditionen, die weiblichen Familienmitgliedern Selbstbewusstsein geben, ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Kraft, einen eigenen Weg einzuschlagen, stärken – patriarchalen Strukturen und diskriminierenden Gesetzen zum Trotz.

Frauen in der MENA-Region emanzipieren sich langsam

Sarah Rachid ist ein Beispiel. Sie ist Mitte 40. Die Libanesin kann sich gut daran erinnern, wie das Klima in ihrer Familie sie geprägt hat: „Mein Vater hat mir und meinen Geschwistern eingebläut, unseren Verstand einzusetzen und uns nie von Personen, die ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießen, wie etwa religiöse Autoritäten, blenden zu lassen.“ Bildung und Unabhängigkeit sind Werte, die ihre Lebensplanung bestimmten. Bereits ihre Großmutter genoss eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit und konnte eigenständig über ihr Geld bestimmen.

Stark unterstützend empfindet Sarah auch die weibliche Solidarität in der Familie – die Tradition, dass Mütter und Großmütter da sind für die jüngeren weiblichen Familienmitglieder in der Phase der Schwangerschaft, Geburt und bei der Betreuung der Kleinkinder.

Andererseits, ergänzt Sarah, wurde von den Frauen in ihrer Umgebung selbstverständlich erwartet, dass die Familie Priorität habe. Berufstätigkeit und Unabhängigkeit werden zwar akzeptiert und gefördert, aber nicht auf Kosten der Familie. Dass Männer im Haushalt eine aktive Rolle übernehmen, ist nicht vorgesehen. Männer, die trotzdem häusliche Aufgaben wie Kinderbetreuung oder Kochen übernehmen, sprechen nicht öffentlich darüber.

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Familientraditionen sind allerdings auch wandelbar. Unmerklich verändern sie sich mit wachsendem Bildungsstandard, Urbanisierung, positiven Rollenbeispielen und stetigem Kampf der Frauenbewegung. Rana Haddad ist ein Beispiel für eine Frau, die trotz konservativer Frauentraditionen mit Bildung und einem pragmatischen Umgang mit religiösen Regeln heute ein selbstbestimmtes Leben führt.

Die 40-Jährige ist in Beirut in einer religiösen Familie aufgewachsen. In jungen Jahren trug sie Kopftuch, heute nicht mehr. Sie hat Psychologie und Soziologie studiert und arbeitet für lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen im Libanon. Sie wohnt allein und ist wirtschaftlich unabhängig.

Rana erklärt, dass es ihrer Mutter vor 40 Jahren noch verboten war, mit fremden Männern zu sprechen. Auch ihrer ältesten Schwester wurden von der Familie strenge Regeln auferlegt. Rana sagt von sich, dass sie zwar die Traditionen in ihrer Familie respektiere, aber für sich eine freie Nische geschaffen habe. Der Schlüssel zu dieser Nische war Bildung. Dadurch konnte sie sich immer mehr Freiräume erobern. Ihre emanzipierte Lebensart wird von ihrer Familie akzeptiert.

Doch sind frauenfeindliche Traditionen langlebig. Moderne Kommunikationstechnik kann helfen, über diese Traditionen öffentlich zu sprechen und für ihre Abschaffung einzutreten. Ein Beispiel sind die Videostücke, die eine junge palästinensische Journalistin aus dem Flüchtlingscamp Shatila in Beirut produziert. Sie werden auf der Plattform Campji.com veröffentlicht und erreichen tausende Menschen inner- und außerhalb der Lager.

In den Videos thematisiert Rayan Sukkar Gewalt gegen Mädchen und Frauen in den Familien. Die wortgewandte Journalistin mit Kopftuch spricht ohne Scham und Angst. Sie ist ein Vorbild für viele andere Mädchen und Frauen in ihrer Umgebung.

Mona Naggar

© Entwicklung und Zusammenarbeit 2022

Mona Naggar ist freie Journalistin aus Beirut.

 



Quelle: 

UNESCWA (UN Economic and Social Commission for Western Asia), 2018: Gender justice & equality before the law – Assessment of laws affecting gender equality in the Arab States region:

https://archive.unescwa.org/publications/gender-justice-law-assessment-arab-states

 

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Qantara-Themenseite "Frauen in der islamischen Welt"