Ein wunder Punkt
In den Restriktionen, denen das Angebot an sportlichen Aktivitäten für Frauen unterliegen wird, zeigt sich die Macht eines ultrakonservativen religiösen Establishments und des Teils der Gesellschaft, der den seit langem überfälligen Reformen kritisch gegenübersteht. Die Reformen wurden unumgänglich, weil die Erdöleinnahmen drastisch zurückgegangen sind und die Wettbewerbsfähigkeit Saudi-Arabiens in der wissensbasierten globalisierten Wirtschaft des 21. Jahrhunderts gestärkt werden muss.
Die in einem Zeitraum von mindestens zwei Jahren erarbeiteten Lizensierungsregeln, die Prinzessin Rima Bint Bandar, Vize-Präsidentin für Frauenangelegenheiten der Obersten Sportbehörde, nun bekannt gab, orientieren sich an den Plänen von Prinz Mohammed, die in einem Dokument mit dem Titel "Vision 2030" dargelegt sind. Die Pläne zielen unter anderem auf eine Straffung der Staatsausgaben und damit auch der Aufwendungen für das Gesundheitswesen. Saudi-Arabien gehört zu den Ländern mit den höchsten Raten von starkem Übergewicht und Diabetes.
Sportstätten für Frauen in jedem Bezirk
"Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Gesellschaft zu überzeugen", sagte Prinzessin Rima bei der Vorstellung der Lizensierungsregeln, "sondern beschränkt sich darauf, unseren Mädchen den Weg zu einer gesunden Lebensweise zu bahnen, damit sie Krankheiten entgehen, die durch starkes Übergewicht und Bewegungsmangel entstehen."
Prinzessin Rima, die erste Beamtin für Frauensport in der Geschichte des Königreichs, setzt auf die Eröffnung von Sportstätten in jedem Bezirk und Wohnviertel des Landes. In einem Land, in dem das Fach Sport an staatlichen Mädchenschulen erst noch eingeführt werden muss und keine öffentlichen Sportstätten für Frauen existieren, würde dies einen großen Schritt nach vorn bedeuten.
Noch bis vor Kurzem operierten gewerbsmäßig betriebene Sportzentren, die vor allem von Frauen der Oberschicht und der höheren Mittelschicht genutzt werden, ebenso wie privat organisierte Frauen-Sportteams in einer juristischen Grauzone.
Prinzessin Rima gab zu verstehen, dass die Lizenzen sich auf Sportarten wie Schwimmen, Laufsport und Bodybuilding, nicht aber auf Disziplinen wie Fußball, Volleyball, Basketball und Tennis erstrecken werden.
Die Lizensierungsregeln stehen damit in Einklang mit dem Konzept des Generalsekretärs des Saudischen Olympischen Komitees, Mohammed al-Mishal, aus dem Jahr 2014. Al-Mishal hatte damit auf den Druck des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) reagiert. Er sagte, man werde Frauen nur erlauben, in Sportdisziplinen anzutreten, die "in Saudi-Arabien kulturell und religiös akzeptiert" und mit einer wörtlichen Auslegung des Koran vereinbar seien. Er nannte in diesem Zusammenhang Sportarten wie Reiten, Fechten und Bogenschießen.
In den Lizensierungsregeln schlägt sich auch nieder, dass man einige Jahre zuvor, bei der Erstellung eines nationalen Konzepts für den Männersport, von der Idee Abstand genommen hatte, die Einzelsportarten stärker zu gewichten als die Mannschaftssportarten. Durch die Herabstufung der Mannschaftsarten hatte man die Gefahr mindern wollen, dass Fußball sich zu einer Plattform des Widerstands gegen die Regierung entwickeln würde, so wie dies bereits 2011 während der Arabellion in Ägypten und in anderen Ländern der arabischen Welt der Fall war. Weil aber Saudi-Arabien - genauso wie die meisten Länder der Region - verrückt nach Fußball ist, erwies sich das Vorhaben als nicht realisierbar. Anfang Februar dieses Jahres kündigte das Königreich an, dass fünf seiner Spitzen-Fußballclubs privatisiert werden sollen.
Am Umgang mit einem Thema wie dem Frauensport wird sich zeigen, inwieweit Saudi-Arabien in der Lage ist, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen es steht, offensiv anzugehen und die von Prinz Mohammed skizzierten Bestrebungen der Regierung voranzutreiben, die Wirtschaft zu diversifizieren, den aufgeblähten Bürokratieapparat zu entschlacken und die Macht der Saud-Dynastie abzusichern.
Ein Reformprogramm mit vielen offenen Fragen
Das Reformprogramm "Vision 2030" beschreibt Sport als "eine tragende Säule einer gesunden und ausgewogenen Lebensweise" und verbindet dies mit der Zusicherung, Menschen "dazu anzuhalten, in großer Zahl und regelmäßig an sportlichen Aktivitäten teilzunehmen".
Die derzeitige Lizensierung von Sportstätten für Frauen erfolgt, obwohl auf Angebote für Frauen in "Vision 2030" gar kein Bezug genommen wird. Nicht einmal indirekt angesprochen sind darin auch Forderungen des IOC und von Menschenrechtsgruppen, dass es Frauen ermöglicht werden soll, sämtliche Sportarten - und nicht nur solche, die im Koran erwähnt sind - ungehindert auszuüben.
Das Institute for Gulf Affairs, das seinen Sitz in Washington hat und vom saudischen Dissidenten Ali al-Ahmad geleitet wird, ging 2014 davon aus, dass in Saudi-Arabien bis zu 74 Prozent der Erwachsenen und 40 Prozent der Kinder übergewichtig oder stark übergewichtig seien.
"Frauen in Saudi-Arabien", heißt es in dem Bericht, "werden von der Regierung still und leise umgebracht. Nicht durch öffentliche Hinrichtungen, brutale Vergewaltigungen oder Prügel, sondern durch Restriktionen, welche die Regierung ihnen tagtäglich auferlegt... Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Restriktionen der körperlichen und sportlichen Aktivität von Frauen nichts mit Kultur und Religion zu tun haben, sondern vielmehr von der herrschenden Elite als ein Mittel forciert werden, mit dem sie Kontrolle über die Bevölkerung ausüben kann. Solange die saudische Regierung darauf beharrt, derartige Verbote seien in kulturellen Praktiken begründet, werden sich die körperliche und psychische Gesundheit von Frauen sowie ihr gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Status weiter verschlechtern".
Anhaltende geschlechtsspezifische Diskriminierung
Dem Bericht zufolge laufen die Restriktionen darauf hinaus, dass "die Regierung Frauen eine fast durchweg sitzende Lebensweise aufzwingt, indem sie ihnen Teilnahme am Sportunterricht und sportliche Betätigung de facto untersagt, ausgehend von dem wahhabitischen Gebot, dass 'Frauen unsichtbar zu halten' sind".
Human Rights Watch kam im vergangenen Jahr in einem Bericht zu dem Schluss, dass "in Saudi-Arabien Frauen und Mädchen durch umfassende Diskriminierung nach wie vor daran gehindert werden, sich sportlich zu betätigen, und zwar auch im öffentlichen Schulsystem".
Die Menschenrechtsorganisation wies darauf hin, dass saudischen Frauen der Zugang zur staatlich betriebenen Sport-Infrastruktur verwehrt wird, sodass sie von nationalen Turnieren und staatlich organisierten Sportligen ausgeschlossen und auch nicht als Zuschauerinnen zu Spielen männlicher Nationalteams zugelassen sind. Sie haben im Allgemeinen keinen Zutritt zu den rund 150 Clubs, die der obersten Sportbehörde unterstehen. Diese organisiert ausschließlich Turniere für Männer.
Human Rights Watch appellierte an die saudische Regierung, ihre Ernsthaftigkeit durch folgende Maßnahmen unter Beweis zu stellen: Sie soll an allen staatlichen Schulen verpflichtenden Sportunterricht für Mädchen einführen; dafür sorgen, dass Frauen eine Ausbildung für den Sportunterricht an Schulen durchlaufen können; Sportverbände für Frauen einrichten und ihnen erlauben, im In- und Ausland an Wettkämpfen teilzunehmen; Frauen unterstützen, die ebenso wie Männer an internationalen Sportwettbewerben teilnehmen wollen; Frauen erlauben, Sportveranstaltungen mit Männer-Nationalteams zu besuchen.
Minky Worden, bei Human Rights Watch zuständig für weltweite Kampagnen, sagte dazu: "Die saudischen Behörden müssen sich mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung im Sport befassen - nicht nur, weil internationale Menschenrechtsgesetze dies so verlangen, sondern weil es nachhaltige positive Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden der nächsten Generation saudischer Mädchen haben dürfte."
James M. Dorsey
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Christoph Trunk