Der Maler als Geschichtenerzähler 

Als erster bildender Künstler aus Ägypten hat Mohamed Abla die vom Goethe-Institut verliehene Goethe-Medaille bekommen, die höchste Auszeichnung der Auswärtigen Kulturpolitik in Deutschland.
Als erster bildender Künstler aus Ägypten hat Mohamed Abla die vom Goethe-Institut verliehene Goethe-Medaille bekommen, die höchste Auszeichnung der Auswärtigen Kulturpolitik in Deutschland.

Als erster bildender Künstler aus Ägypten hat Mohamed Abla die vom Goethe-Institut verliehene Goethe-Medaille bekommen, die höchste Auszeichnung der Auswärtigen Kulturpolitik in Deutschland. Stefan Weidner stellt den Künstler vor. 

Von Stefan Weidner

Es ist fast unmöglich Mohammed Ablas umfangreiches Lebenswerk in wenigen Worten zu beschreiben und zu würdigen. Geboren 1953 in Mansoura im Nildelta, studierte er Anfang der siebziger Jahre Kunst in Alexandria und ist seit fast fünfzig Jahren als bildender Künstler aktiv — nicht nur in Ägypten, sondern auch in Europa, das er erstmals 1978 für längere Zeit bereiste.

Bis heute wird er in Europa von der Galerie Hohmann in Walsrode betreut, die ihn damals entdeckte und die auch einen repräsentativen Katalog mit seinem Werk publiziert hat, der inzwischen online zugänglich ist.1 

Der "Picasso der Araber“? 

Dem Publikum in Europa in wenigen Worten das reiche Werk von Mohamed Abla zu erklären ist so, als hätte man 1960 das Werk von Pablo Picasso einem unwissenden Publikum vorstellen sollen. Tatsächlich hat wohl nur Picasso ein vergleichbar breites, vielgestaltiges, engagiertes Werk aufzuweisen wie Mohamed Abla. Dennoch wäre es unsinnig, wenn wir ihn mit Pablo Picasso verglichen und etwa sagen würden, Mohamed Abla sei der "Picasso der Araber“.



Der einzige Vergleich, der in dieser Hinsicht angebracht wäre, bestände darin, die Verhältnisse umzukehren und Picasso den "Mohamed Abla der Europäer“ zu nennen. Vielleicht wird man tatsächlich zu diesem Vergleich greifen, wenn man irgendwann in der Zukunft den Kunststudierenden im arabischen Raum die europäische Kunstgeschichte nahebringen will.

Wenn dann jemand fragt, wer Picasso war, und die Antwort erhält, das sei der "Mohamed Abla der Europäer“, werden alle verstehen, was damit gemeint ist: nämlich ein Künstler, der in Wahrheit unvergleichlich ist.

Die Preisträgerinnen und Preisträger der Goethe-Medaille 2022; Foto: Goethe-Institut
Besondere Verdienste im Kulturdialog: In diesem Jahr ging die Goethe-Medaille an den bildenden Künstler Mohamed Abla aus Ägypten (zweiter von links), an die Historikerin Tali Nates aus Südafrika (ganz rechts) sowie an die beiden Künstlerinnen Nimi Ravindran und Shiva Pathak aus Indien. Außenministerin Annalena Baerbock würdigte bei der Preisverleihung in Weimar am 28. August die vier ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler: "Sie zeigen, was geht, wenn man es sich denn traut". Außerdem betonte sie die besondere Leistung der Goethe-Institute in der Auswärtigen Kulturpolitik: "Sie schaffen die Räume für freie Kunst in einer Zeit, in der die Freiheit immer mehr beschnitten wird." 

Im Dialog mit der Zeit 

Um Mohamed Ablas fünfzigjähriges Schaffen zu würdigen, hilft uns der beliebte Begriff der künstlerischen Entwicklung, des sogenannten "Werdegangs“ nicht, weil er impliziert, dass wir hier zwischen Fertigem und Unfertigem, Reifem und Unreifem unterscheiden könnten. Weil dieser Begriff voraussetzt, ein solches Werk habe einen unverrückbaren Kern, aus dem es sich entwickle, eine absolute, ursprüngliche "Identität“. Mohamed Ablas Werk ist immun gegen solche essenzialistischen Begriffe.  

Es ist ein Werk, das im permanenten Dialog mit den Umständen der Zeit entsteht, das immer neue Antworten sucht und stets überraschende Resonanzen hervorbringt. Gerade in seinen Wendungen und Brechungen ist es ein Spiegel der ägyptischen Gesellschaft. Dabei dient es dem Künstler nicht als Megaphon, in das ein aufgeblasenes Ego hineinbrüllt, das allen seine Weltsicht unterjubeln will. Ebenfalls tritt es nicht, wie es gerade Mode ist, mit dem Pathos der Weltverbesserung auf, so sehr sich Mohamed Abla auch sozial und politisch engagiert. 

Der Künstler als Erzähler 

Das künstlerische Werk, das Mohamed Abla in den letzten fünf Jahrzehnte gemalt, geformt und gebildet hat, hat eine epische Qualität. Er erzählt Geschichten, und im Gespräch erwähnt der Künstler stets, dass es diese Geschichten sind, die ihn zu seinen Bildern inspirieren. Oft finden wir auf seinen Bildern auch Schrift, Collagen von Zeitungen, Papierschnipsel, Zitate, Parolen. Aber anders als es unsere Klischees von arabischer Kunst erwarten lassen, sind sie nicht kalligraphisch, lassen die westlichen Erwartungen ins Leere laufen.  

Stattdessen lesen sie sich wie ein Alphabet, das aus den Bildern selbst besteht und sich in der Gesamtheit des Werks zu einem großen, panorama-artigen Zeitroman zusammensetzt. In diesem Roman aus Bildern lernen wir viel über Ägypten und das südliche Mittelmeer, Afrika, den Nahen Osten; aber wir hören auch Echos und Klänge aus Europa. Wir lesen daraus die Ägypterinnen und Ägypter, ihre Zeit, ihre Politik, ihren Widerstand, ihr Durchhaltevermögen, ihre Stimmungen, Ängste, Hoffnungen. Ihre Wut und ihre Liebe.  

 

 

"Fossile der Zukunft"

"Die Dichtung ist der Diwan der Araber“, lautet ein alter arabischer Spruch. Gemeint ist: Die Poesie fungiert als das Archiv der Araber, als Quelle ihrer Geschichte, ihrer Sicht auf die Welt. Bei Mohamed Abla ist nun die Kunst zum Archiv der Araber geworden. Als Archäologe unserer kontaminierten Moderne hat er in den neunziger Jahren, seiner Zeit weit voraus, in einem heute berühmten Werkzyklus den Müll aus dem Nil gefischt und ihn in Plastiken, Kunstwerke verwandelt. Für diese Werke, "Future Fossils“ ("Fossile der Zukunft“) genannt, bekam er 1997 den großen Preis der Alexandria-Biennale.  

Mit seiner Bekanntheit als Künstler rettete er eine Nilinsel und ihre angestammten Bewohner — Fischer, Fährmänner, einfache Arbeiter — vor der Immobilienmafia, die daraus ein Manhattan machen will. In der Oase al-Fayoum südwestlich von Kairo gründete er 2006 das Al-Fayoum Art Center. Dazu zählt auch ein Karikaturenmuseum. Es schafft einen geschützten Raum für zeichnerische Interventionen, für Kritik, Satire und Humor, dem ewigen Hassobjekt von Fanatikern und Moralaposteln aller Couleur, in der arabischen Welt nicht anders als in Europa. 

Kunst als Archiv 

Während die berühmten Wandmalereien des arabischen Frühlings in Kairo inzwischen fast sämtlich beseitigt worden sind (hätte man daraus nicht wenigstens eine Touristenattraktion machen können?), bleiben Mohamed Ablas Bilder von der Revolution in den Händen beneidenswerter Museen, Galerien und Kunstsammler und sind damit gerettet.

An seinem Werk macht sich somit eine neue Definition von Kunst bemerkbar: Kunst ist das, was irgendwie noch vor der Zerstörungswut einer übergriffigen Wirklichkeit und Gesellschaft gerettet werden kann, eine Arche Noah für alles Abweichende, Unbequeme, Undeutbare, Diverse, Verhasste, Ausgestoßene, Widerständige. 



Wir brauchen die Kraft zur Erneuerung in dieser Zeit. Das @goetheinstitut schafft diese Kraft zur Erneuerung.“ & „Die Auswärtige Kulturpolitik muss ein fester Bestandteil der dt. Außenpolitik sein“ @ABaerbock bei Verleihung der Goethe-Medaillen in Weimar https://t.co/GEwHLXz5bB pic.twitter.com/nHEWqvi5uR

— Johannes Ebert (@johannes_ebert_) August 28, 2022

 

In Gestalt dieser archäologischen und archivarischen Dimension, in Mohamed Ablas Engagement und Aktivismus, in seiner Einmischung und Teilhabe, in seinem Mitleiden und Mitfreuen erkennen wir ein Leuchten, sehen wir ein Licht am Werk, das anderswo schon lange erloschen ist. Dass dieses Licht in Ägypten intensiver ist als hierzulande, wundert uns nicht. Allerdings geht es hier nicht um das physikalische Licht, sondern das metaphorische, das Licht des Geistes und der — wohlgemerkt künstlerischen! — Offenbarung.  

Farbenlehre und Sufismus 

Wenn Mohamed Abla aber nun mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wird, dürfen wir fragen, worin seine Verbindung zu Goethe besteht — abgesehen davon, dass er sehr gut deutsch spricht und Goethe schon früh in arabischen Übersetzungen gelesen hat, wie er bekennt. Da wir es mit einem Maler zu tun haben, liegt es nah, in Goethes "Farbenlehre“ nachzuschlagen. In der Einleitung zitiert Goethe folgende Strophe: 

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, 

Wie könnten wir das Licht erblicken? 

Lebt’ nicht in uns des Gottes eigene Kraft, 

Wie könnt’ uns Göttliches entzücken? 

Das sind keine Verse von Goethe selbst, er hat sie nur nachgedichtet. Die Quelle ist, seinen Worten zufolge, ein alter Mystiker. Wenn wir nachforschen, wer dieser Mystiker ist, stellen wir überrascht fest, dass es sich um einen gebürtigen Ägypter handelt!

Das Karikaturenmuseum in der Oase Fayoum von Mohamed Abla; Foto: Goethe Institut/Sameh Fayez
Einzigartiges Karikaturenmuseum: In einem traditionellen Lehmbau in dem Künstlerdorf Tunis in der Oase El-Fayoum südwestlich von Kairo gründete Mohamed Abla 2006 das Al-Fayoum Art Center, zu dem auch ein Karikaturenmuseum zählt, das erste seiner Art in der arabischen Welt. "Es schafft einen geschützten Raum für zeichnerische Interventionen, für Kritik, Satire und Humor, dem ewigen Hassobjekt von Fanatikern und Moralaposteln aller Couleur, in der arabischen Welt nicht anders als in Europa“, schreibt Stefan Weidner.



Im Jahr 205 n. Chr. am Nil in Assiut geboren, erhielt er seine Ausbildung im damals griechisch geprägten Alexandria. Auf einem Feldzug im Gefolge des damaligen römischen Kaisers verschlug es ihn bis nach Persien, danach wirkte er in Rom und wurde der Begründer des Neuplatonismus. Sein Name ist Plotin.  

Wie heute nur noch wenige wissen, wurde Plotin von den muslimischen Philosophen und Mystikern, den Sufis, intensiv gelesen und übersetzt. Einer der bekanntesten dieser Sufis war der im Jahr 505 muslimischer, 1111 christlicher Zeitrechnung verstorbene al-Ghazali. Er schrieb ein berühmtes kleines Buch, "Die Nische der Lichter“ (Mishkat al-Anwar), worin er die Lichtmystik Plotins und des Koran auf sufische Weise deutet.  

Das Licht am Ende des Tunnels 

Für al-Ghazali erschöpft sich das Licht nicht in seiner konkreten, physikalischen Erscheinung. Vielmehr ist bei ihm das konkrete Licht, ganz wie in den zitierten Versen bei Goethe, nur eine Metapher für das eigentliche, wahre Licht, nämlich das Licht des Geistes, das uns wiederum mit Gott verbindet.

In diesem geistigen Sinn, so bin ich überzeugt, malt Mohamed Abla das Licht am Ende des langen, finsteren Tunnels, in den wir, ohne es recht gemerkt zu haben, vor vielen, vielen Jahren eingefahren sind. Es kann für uns alle nur ein gutes Zeichen sein, dass ihm in diesen schwierige Zeiten die Goethe-Medaille verliehen wird. 

Stefan Weidner

© Qantara.de 2022

Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Der Text ist eine adaptierte Fassung seiner Laudatio auf Mohamed Abla, die der Autor anlässlich Preisverleihung am 28. August in Weimar vortrug.