Ein notwendiges Übel?
Nach den Terrorangriffen in Paris erklärte der britische Premierminister David Cameron: "Wir werden unsere Bemühungen verdoppeln, diese zerstörerische, extremistische Ideologie auszulöschen." Damit greift er das Vorwort zur kürzlich veröffentlichten Extremismusbekämpfungsstrategie Großbritanniens auf. Darin bezeichnet Cameron den Kampf gegen den islamistischen Extremismus als "eine der größten Anstrengungen unserer Generation. Die Antwort auf diese zerstörerische Ideologie verlangt von uns eine Entscheidung. Schließen wir unsere Augen, ziehen wir die Samthandschuhe an und hoffen wir, dass sich unsere Werte letztendlich durchsetzen? Oder gehen wir in die Offensive und treten energisch für diese Werte ein, verteidigen sie mit allem, was wir haben, und gewinnen schließlich erneut den Kampf um die Ideen?".
Großbritanniens Extremismusbekämpfungsstrategie hat bereits für großen öffentlichen Unmut gesorgt – ob bei Muslimen oder Nicht-Muslimen. Doch die Pariser Terrorangriffe werden wohl die Regierung umso mehr dazu veranlassen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, aus der Strategie einen Gesetzesentwurf zu formulieren und schließlich als Gesetz zu verabschieden.
Eine Frage der Definition
Kritiker sagen, die vorhandenen Gesetze zur Extremismusbekämpfung reichten bereits völlig aus. Cameron habe sich der Idee verschrieben, nicht nur den gewaltsamen, sondern auch den nicht gewaltsamen Extremismus zu bekämpfen, der – wie er behauptet – ebenfalls zu Gewalt und Terrorismus führe.
Gegner der Strategie verweisen auf die Schwierigkeit, Radikalismus und Extremismus genau zu definieren. Nach Auffassung der Regierung ist dies die "verbale oder aktive Ablehnung grundlegender britischer Werte, beispielsweise der Demokratie, der Rechtsordnung, der Freiheit des Einzelnen sowie des gegenseitigen Respekts und der Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen und Konfessionen. Unsere Definition von Extremismus beinhaltet auch Appelle zur Tötung von Angehörigen der britischen Armee", heißt es in dem Strategiepapier.
Diese Definition ist allerdings recht vage und unscharf formuliert. So gibt es Befürchtungen, die Gesetze zur Extremismusbekämpfung könnten von einer Regierung dazu genutzt werden, Individuen und Organisationen mundtot zu machen, wie beispielsweise Umweltaktivisten, Tierschützer, Gegner der Homoehe und Unterstützer der Rechte ungeborener Kinder.
Der Verband "English PEN" und die Organisation "Index on Censorship" erklärten bereits in einer gemeinsamen Stellungnahme: "In dieser neuen Strategie sieht die Regierung Maßnahmen vor, die die rechtmäßige Meinungsäußerung kriminalisieren und den Raum für eine offene Debatte in der Gesellschaft einschränken könnten".
Der "Muslimische Rat Großbritanniens" (MCB), ein Dachverband von mehr als 500 muslimischen Organisationen, Moscheen, Wohlfahrtsvereinen und Schulen, erklärte, die Strategie basiere "auf einer fehlerhaften Analyse" und könne "konterproduktiv sein und muslimische Gemeinschaften an den Rand der Gesellschaft drängen". Zudem heißt es: "Ob in Moscheen, Schulen oder Wohltätigkeitsorganisationen: Die Strategie wird die Auffassung stützen, dass alle Aspekte des muslimischen Lebens einem Zulassungstest unterzogen werden sollen, um unsere Treue zu diesem Land unter Beweis zu stellen".
Gefahr der Entfremdung
Die Pariser Terrorangriffe erinnern die Briten daran, dass auch sie vom Terror bedroht sind und dass diese Bedrohung durch das Erstarken des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) größer geworden ist. Man geht davon aus, dass etwa 450 britische Muslime von Kampfhandlungen in Syrien oder im Irak zurückgekehrt sind. Die damit verbundenen Risiken lassen in London die Alarmglocken läuten. Laut Cameron konnten die britischen Sicherheitsdienste im letzten halben Jahr etwa sieben Terrorangriffe verhindern.
Nur ein kleiner Teil der insgesamt 1,8 Millionen muslimischen Briten, die rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, gilt als gewaltbereit und extremistisch. In einer Rede auf einer Sicherheitskonferenz in der Slowakei im Juni dieses Jahres brüskierte Cameron dennoch viele britische Muslime, als er behauptete, eine nennenswerte Zahl "dulde stillschweigend" die extremistische Ideologie des "Islamischen Staates".
Indem Cameron den Kampf gegen den Extremismus zu einem Kampf gegen eine Ideologie macht, spielt er andere Faktoren herunter, denen viele Fachleute eine wichtige Rolle in der Radikalisierung beimessen.
Auf die Frage, warum die islamistische Ideologie für junge Muslime so attraktiv sei, wies er noch im vergangenen Juli Erklärungen zurück, die einen Zusammenhang mit historischen Ungerechtigkeiten, jüngsten Kriegshandlungen sowie Armut und sozialen Härten herstellten. "Ich lasse diese Argumente nicht gelten und halte sie für einen Versuch, Missstände zu rechtfertigen", erklärte Cameron. "Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Die eigentliche Ursache der Bedrohung ist die extremistische Ideologie selbst."
Einige muslimische Gemeinschaften sind verärgert darüber, dass Cameron bei der Formulierung seiner Strategie nur ausgewählte muslimische Organisationen konsultierte, wie beispielsweise die "Quilliam Foundation" (ein anti-islamischer Think Tank), während andere – wie der "Muslimische Rat Großbritanniens" (MCB) – gemieden wurden. Im Rahmen der Extremismusbekämpfungsstrategie lehnt die Regierung nicht nur die Zusammenarbeit mit ihrer Meinung nach "extremistischen Gruppen und Einzelpersonen" ab, sondern wird "reformorientierte und moderate muslimische Kräfte aktiv unterstützen". Cameron hat bereits fünf Millionen britische Pfund für den "Aufbau eines nationalen Netzwerks aus Basisorganisationen zur Bekämpfung aller Formen extremistischer Ideologie" zugesagt.
Bedrohung bürgerlicher Freiheiten
Die Extremismusbekämpfungsstrategie umfasst neue Befugnisse zur Ächtung extremistischer Organisationen, zur Einschränkung gefährdender Aktivitäten der "radikalsten und extremistischsten Personen" und zur Einschränkung des Zugangs zu "Räumlichkeiten, die wiederholt zur Förderung von Extremismus genutzt werden".
Grundverschiedene Einrichtungen – wie die "National Secular Society" und das "Christian Institute" – kritisieren die Extremism Disruption Orders (EDOs) und haben gemeinsam die sogenannte "Defend Freedom Campaign“ zur Verteidigung der Freiheit ins Leben zu rufen. Hinter dieser Kampagne stehen English PEN, "Big Brother Watch", die "Peter Tatchell Foundation" und der "Manifesto Club".
Die Kampagne bezeichnet die EDOs als "einen Rundumangriff auf die freie Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit und alle Formen des legitimen öffentlichen Protests". "Indem die Regierung den Begriff Extremismus so vage definiert, besteht die Gefahr, dass ganz gewöhnliche Menschen kriminalisiert werden, die allein für ihre Überzeugungen einstehen", so die Kritik.
Großbritanniens neue Extremismusbekämpfungsstrategie zielt zudem darauf ab, öffentliche Einrichtungen von Islamisten zu säubern. Hierzu will man deren "Entrismus-Taktik" eindämmen, über die sich Extremisten in Institutionen einschleichen, um ihre Agenda durchzusetzen. Die Strategie zitiert ein Beispiel einer solchen "Entrismus-Taktik", nämlich den Skandal um die Operation "Trojanisches Pferd": Mitte 2014 hatten Islamisten in Birmingham angeblich versucht, staatliche säkulare Schulen zu unterwandern, zu kontrollieren und zu islamisieren.
Die Regierung führt eine umfassende Untersuchung durch, "um sicherzustellen, dass alle Institutionen gegen die Gefahr des Entrismus gefeit sind". Ein entsprechender Bericht ist für 2016 vorgesehen. Er wird insbesondere den öffentlichen Sektor ins Auge nehmen, d.h. Schulen, weiterführende und höhere Bildungseinrichtungen, lokale Behörden, den Nationalen Gesundheitsdienst und den öffentlichen Dienst.
Pflicht zur Vorbeugung
Die Extremismusbekämpfungsstrategie folgt unmittelbar dem "Gesetz zur Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung" (Counter-Terrorism and Security Act) von 2015, das u. a. als Reaktion auf die Bedrohung durch den selbsternannten "Islamischen Staat" verabschiedet wurde.
Ein kontroverser Bestandteil dieses Gesetzes ist die neue "Vorbeugepflicht", wonach Schulen, Hochschulen, weiterführende Bildungseinrichtungen, lokale Behörden, Haftanstalten und der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) dazu verpflichtet sind, Menschen davon abzuhalten, sich dem Terrorismus zuzuwenden. Damit entsprechende Maßnahmen ergriffen werden können, sollen Einzelne identifiziert und gemeldet werden, die als "anfällig für Radikalisierung" gelten oder die sich extremistisch betätigen.
Einige sehen die Pflicht zur Vorbeugung als eine Aufforderung an die Institutionen, Personen auszuspähen und zu melden. Damit einher geht die Gefahr, das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden oder zwischen Ärzten und Patienten zu zerstören. Doch wie definiert man "anfällig für Radikalisierung" eigentlich genau? Die Pflicht zur Vorbeugung führt eine wachsende Zahl junger Menschen dem Deradikalisierungsprogramm des behördlichen Channel-Projekts zu. Doch die Zahl geschulter "Deradikalisierer" liegt weit hinter dem Bedarf zurück.
Wie bereits beim "Gesetz zur Verbesserung der Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung" wird auch das kommende Extremismusbekämpfungsgesetz wahrscheinlich auf Kritik stoßen und parlamentarisch nachgebessert werden. Da wegen der Pariser Terrorangriffe ein erheblicher Teil der britischen Öffentlichkeit mehr Sicherheit verlangt, könnte Camerons neue Extremismusbekämpfungsstrategie aufgehen.
Susannah Tarbush
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers