Tel Aviv: Eine Stadt ist wie gelähmt
Tel Aviv fühlt sich an, als hätte jemand den Stecker gezogen. Am vergangenen Freitag (07.10.) tobte hier noch das Leben. Für viele der rund 500.000 Einheimischen und für tausende Touristinnen und Touristen aus der ganzen Welt ist das Leben an diesem Tag hier paradiesisch.
Die Stimmung ist ausgelassen: 27 Grad Celsius Lufttemperatur, dicht an dicht liegen die Menschen am Strand oder sie präsentieren ihre Körper an der Promenade. Viele chillen in einer der lässigen Strandbars zur Live-Musik von DJs. Auch ich lasse mich von der Woge der guten Laune treiben, gemeinsam mit meinem Ehemann bin ich am Vorabend aus Berlin angekommen.
Wo immer wir am Freitag hinkommen, erwartet uns entspannte Musik, die Menschen sind gut gelaunt - und ganz offenkundig ahnt niemand, welche Gräueltaten nur 60 Kilometer weiter südlich zur gleichen Zeit vorbereitet werden.
Wenn sich die Dunkelheit über die Metropole legt, wird aus mancher dicht befahrenen Straße eine Flaniermeile, bis tief in die Nacht. Es ist genau dieser "Vibe", den alle an Tel Aviv lieben: diejenigen, die hier leben, wie auch diejenigen, die als Gäste herkommen, um Energie zu tanken und das Leben zu genießen.
Raketenalarm
Das alles ist vorbei. Schlagartig. Samstagmorgen, halb sieben: Sirenen wecken die Menschen in der ganzen Stadt. Für die meisten, die hier leben, kein Grund zur Sorge. Raketenalarm ist normal und der Raketenabwehrschild "Iron Dome" gilt als nahezu undurchdringlich. Und die meisten Touristen in der Stadt drehen sich in ihren Hotelbetten einfach nochmal um.
Denn auch sie kennen das Narrativ: Die Raketen würden abgeschossen, bevor sie Tel Aviv erreichen. Gefährlich sei nicht die Sprengkraft der Raketen, sondern die Teile, die durch den Abschuss der Flugkörper durch die Raketenabwehr vom Himmel fallen. Was soll da schon passieren in meinem warmen Hotelbett?!
Kurz später wundere ich mich: Es donnert extrem laut, die Wände des Hotelzimmers wackeln. Es hört sich überhaupt nicht so an, als würden die Raketen weit vor der Stadt abgeschossen. Das ist der Moment, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Bunker Schutz suche. Und trotzdem sind alle hier ziemlich entspannt. Noch.
Die Stimmung kippt
Die Gemütslage ändert sich, als sich gegen acht Uhr die ersten Meldungen verbreiten: Das System zur Abwehr von Raketen hat nicht alle Angriffe abgewehrt, nicht in Tel Aviv und vor allem nicht weiter südlich. Es heißt, es soll Verletzte geben, gar Tote. Schlimmer noch: Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen sollen auf israelischem Staatsgebiet Geiseln genommen haben.
Ab jetzt ist die Stimmung in Tel Aviv gelähmt, als hätte jemand das Licht ausgemacht. An diesem Tag sind nur die Lokale geöffnet, in denen bereits vor den Schreckensmeldungen mit der Arbeit losgelegt wurde: Frühstücks-Cafés, die vorrangig von Touristen besucht werden.
Die beiden Kellnerinnen, die unser Frühstück servieren, haben Sorgen: Eine kann ihren Schwiegervater nicht erreichen, der gerade in der Nähe des Gazastreifens unterwegs ist. Die andere warnt vorsorglich ihre Gäste: "Falls es tatsächlich nochmal einen Angriff geben sollte, dann ist der Schutzraum dort drüben im Nachbargebäude." Sie sagt es in einer Gemütslage von "kann sein, ist aber unwahrscheinlich". Und sie unterschätzt, wie fast alle in der Stadt, wie sehr dieser Tag am Ende das Land in seinen Grundfesten erschüttert.
Schreckensmeldungen
Erst nach und nach rückt der ganze Umfang der Terrorangriffe ins Bewusstsein der Menschen. Während Vormittags an der Rezeption meines Boutique-Hotels noch Massagetermine gebucht werden, sterben 60 Kilometer weiter südlich immer mehr Menschen. Und das Schlimmste: Es hört nicht auf.
Die Meldungen überschlagen sich: immer mehr Tote, immer mehr Geiseln, immer mehr Orte, die von Hamas-Terroristen besetzt sein sollen. Dabei ist das ganze Ausmaß der Gewalt noch gar nicht bekannt.
Über Tel Aviv fliegen ununterbrochen Militärhubschrauber. Unten in den Straßen ist gähnende Leere. Kaum jemand traut sich aus dem Haus, aus Angst, die Terroristen könnten mittlerweile auch Tel Aviv erreicht haben und hier auch Geiseln nehmen.
Es gibt kaum ein Taxi, die Bars und Restaurants bleiben geschlossen, nur wenige Supermärkte trauen sich, ihre Türen zu öffnen. Und der Strand, tags zuvor noch von Tausenden bevölkert, erscheint geisterhaft. Mit Flatterband hat die Polizei die ganze Küstenlinie abgesperrt, niemand darf ins Meer.
Hundertschaften von schwerbewaffneten Polizistinnen und Polizisten stehen auf der Strandpromenade oder sitzen an den Tischen der geschlossenen Restaurants, in denen gestern noch gute Laune herrschte. Ihre Blicke gehen aufs Meer - dahin, wo die Angreifenden herkommen könnten, um den Terror nach Tel Aviv zu bringen. Das Schwimmverbot schafft der Polizei ein freies Schussfeld. In Tel Aviv macht sich mehr und mehr die Angst breit.
Realität der Gewalt
In unserem Boutique-Hotel kommt die Masseurin nicht zur Arbeit, weil die Taxis nicht fahren. Genau wie der Barkeeper. Die Rezeptionistinnen, die zwar besorgt, aber noch nicht erschüttert sind, öffnen kurzerhand ein paar Flaschen Wein, legen sie auf Eis und laden die Gäste ein, sich an der Poolbar selbst zu bedienen. Kostenlos. Tel Aviv rocks, auch wenn Raketen mitten im Stadtgebiet einschlagen.
Doch selbst hier, auf der Dachterrasse des Luxushotels, kann die Realität nicht ewig draußen bleiben. Bei Einbruch der Dunkelheit sind die Eiswürfel geschmolzen, der Wein ist warm und die letzte verbliebene Rezeptionistin hat jetzt ernsthafte Probleme: Ab 20 Uhr gibt es Raketenalarm im Zehn-Minuten-Takt.
Sie muss die Touristen im Haus immer wieder in den Bunker schaffen, im dritten Kellergeschoss. Wie viele Touristen sind eigentlich noch da? Wer ist schon abgereist? Wer hört den Alarm gerade nicht? Es gibt keinen Überblick. Es gibt nur die unglaubliche Professionalität der Rezeptionistin, die es gewohnt ist, dass Sirenen Menschen in die Schutzräume schicken. Doch bei aller Gewohnheit ist die Angst dieses Mal groß.
Nur noch raus
Im Bunker unseres Luxushotels chattet die Rezeptionistin mit ihren Freunden und Verwandten, besorgt darum, ob alle leben, ob jemand entführt wurde, wer als Reservist in dieser Nacht in den Krieg geschickt wird.
Und alle Touristen versuchen, Flüge zu buchen. Alle wollen raus hier, raus aus dem Bunker, raus aus Israel, so schnell es geht. Wir auch. Doch ungefähr ein Drittel der Flüge fällt aus, die Buchungsseiten der Airlines sind vom massenhaften Ansturm hoffnungslos überfordert. Wer einen Taxifahrer auftreiben kann, fährt zum Flughafen und versucht sein Glück gleich vor Ort.
Egal wohin, nur weg aus der Stadt, die bis vor einem Tag noch das Paradies des eskapistischen Lifestyles war. Doch fast alles ist ausgebucht. Um Mitternacht schaffe ich es, einen Flug nach Kreta zu buchen, mit einer Airline, von der ich noch nie etwas gehört habe.
Sechs Stunden später ist die Rezeptionistin von gestern immer noch da. Sie hat nicht geschlafen, ist völlig am Ende ihrer Kräfte. Sie gibt uns Kekse zum Frühstück - denn die Cafés öffnen heute nicht mehr - und besorgt uns sogar ein Taxi, das wir uns mit anderen Hotelgästen teilen.
Am Flughafen wird schnell klar: Der Flug nach Kreta wurde abgesagt. Ein Flug nach Dubai eines Mitfahrers im Taxi ist überbucht. Lange stehen wir, gemeinsam mit hunderten anderen Touristen, vor der großen Monitorwand mit Boardingdaten und versuchen, jeden einzelnen möglichen Abflug auf den Internetseiten der Airlines zu buchen. Es scheint hoffnungslos, frühester Abflug oft erst in drei Tagen.
Nach einer Stunde ergattere ich die fast letzten Tickets für einen Flug nach Budapest in drei Stunden. Der Preis ist mir egal. Hauptsache raus. Doch was mich später richtig wütend macht: Alle Tickets sind verkauft, aber rund 60 Prozent der Plätze in der Maschine sind leer.
Offenbar haben es viele Passagiere nicht zum Flughafen geschafft oder sie sind schon früher geflogen. Und da die Billig-Airline weder die Möglichkeit zur Stornierung noch Standby-Listen anbietet, bei denen kurz vor dem Abflug alle freien Plätze an Wartende vergeben werden könnten, starten wir in einem ziemlich leeren, aber fast ausgebuchten Flug nach Ungarn.
Jochen Rosenkranz
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