Museum mit Gewissensbissen
Der 200. Jahrestag der Entzifferung des Steins von Rosette wird sowohl von Großbritannien als auch von Frankreich begangen und hat einen Wettbewerb zwischen dem Louvre in Paris und dem British Museum in London ausgelöst. Dem französischen Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion, dem die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen zugeschrieben wird, hat der Louvre bereits eine eigene Ausstellung gewidmet, die dessen historische Rolle bei dieser wegweisenden Entdeckung würdigt.
Der Stein von Rosette befindet sich allerdings in der Sammlung des British Museum. Es sieht den Stein als sein wichtigstes historisches Objekt und größten Publikumsmagneten. Allerdings verfolgt das Museum mit der Hieroglyphen-Ausstellung andere Anliegen als bloße Eigenwerbung.
Der Stein von Rosette: doppeltes Raubgut
Der berühmte Stein bleibt im wahrsten Sinne des Wortes Kriegsbeute. Er ist die Beute aus einem Doppelraub. Die Franzosen stahlen ihn aus den Ruinen eines Forts in der Nähe der Hafenstadt Rashid (oder Rosette) im Nildelta während Napoleons Ägyptenfeldzug. Die britische Flotte beschlagnahmte ihn nach der Kapitulation von Alexandria und langwierigen Verhandlungen, bei denen die Franzosen drohten, den kostbaren Stein zu zerstören.
Die zeitgenössischen Museumswissenschaften werden ebenso von kolonialen Schuldgefühlen geprägt wie von der moralischen Rastlosigkeit, wie sie der Ethnologie zu eigen ist. Handelt es sich doch bei beiden ursprünglich um koloniale Wissenschaften mit dem Ziel, Wissen über "andere“ Völker anzuhäufen. In den Museumswissenschaften geht es um die Vergangenheit, in der Ethnologie um die Gegenwart.
Sortieren, katalogisieren, klassifizieren und bewahren waren die Werkzeuge, die zusammen mit Gewalt und Unterwerfung auf dem Vormarsch des Westens zum Einsatz kamen.
Das Streben nach Wissen diente als Vorwand für spätere Ansprüche. Die Ethnologie machte es sich leichter, indem sie ihre Literatur überarbeitete und umschrieb, um den Rassismus zu tilgen, sich eine Zukunft in den Grenzen eines kulturellen Relativismus zu verordnen und westliche Gesellschaften in ihre Forschungsfelder einzubeziehen. So kam die Ethnologie dazu, alle Menschen gleich zu sehen.
Die Museen stießen jedoch in ihrem Bestreben, sich der Sünden der Vergangenheit zu entledigen, auf Hindernisse. Die Erwerbungen aus der Kolonialzeit – oder das Beutegut – in den Sammlungen der Museen sind gleichermaßen Belege für die ursprünglichen Verbrechen wie Hinweise auf fortgesetzte Verstöße. Würde man das Beutegut dorthin zurückgeben, woher es kommt, könnte man viele Museen schließen.
Umgang mit dem kolonialen Schuldgefühl
Die aktuelle britische Ausstellung über Hieroglyphen begegnet diesem Schuldgefühl mit verschiedenen Strategien. Erstens indem sie anerkennt, was geschehen ist. Das Museum zeigt in einer Ecke der Ausstellung, dass die Beschlagnahme des Steins die Grundlage für den heutigen Besitz darstellt. Der militärische Kontext der Entdeckung wird in einer Chronik dokumentiert. Dazu zählen auch die Details der Weitergabe während der Kriegshandlungen.
Gleichzeitig widersprechen die Kuratoren dem aufklärerischen individualistischen Narrativ, das die große Entdeckung dem Genie einer einzelnen Person zuschreibt. Dieses Narrativ erklärt die Dinge auf der Grundlage der Ratio und der Befreiung von Traditionen und Aberglauben zugunsten moderner wissenschaftlicher Methoden.
Die Ausstellung erkennt zwar die herausragende Rolle Champollions bei der Entschlüsselung der altägyptischen Sprache an, zeichnet aber eine komplexere Geschichte nach. Diese Geschichte verläuft nicht geradlinig, sondern umfasst Dutzende von Namen, die auf dem Weg zur Entzifferung der Hieroglyphen wichtige Hintergrundinformationen beitrugen. Muslimische Schriftsteller, Kaufleute, Reisende, Fälscher, Diebe, Zauberer und europäische Soldaten aus dem Mittelalter, der Renaissance und darüber hinaus haben ihren Teil zur Entzifferung beigetragen.
Sie alle wirkten bei den Grundlagen für diesen Durchbruch mit, ebenso wie eine Reihe von Wissenschaftlern aus dem Umfeld von Champollions Zeitgenossen und seinen Vorgängern.
Stimmen aus der "indigenen“ Bevölkerung
Als reiche all dies nicht aus, um die koloniale Schuld zu sühnen, ergänzen die Kuratoren die Ausstellung mit lokalen Elementen und Stimmen aus der "indigenen“ Bevölkerung. So vermittelt die erste Ausstellungsebene einen Überblick über die Stadt Rashid (Rosette), den Herkunftsort des Steins, mit zeitgenössischen Bildern der Stadt und ihren Bewohnern. Die Texte neben den Exponaten der Sammlung enthalten Zitate von Professoren für Archäologie und Ägyptologie an ägyptischen Hochschulen.
Die Exponate selbst umfassen antike arabische Bücher mit Tabellen des pharaonischen Alphabets sowie Entwürfe des ersten hieroglyphisch-arabischen Wörterbuchs, zusammengestellt vom ersten Leiter der ägyptischen Altertumsbehörde.
Im letzten Teil der Ausstellung hören die Besucher im Hintergrund Aufnahmen von koptischen Hymnen aus der orthodoxen Liturgie. Eine Tafel informiert über den Namen des Kantors und verweist auf die Rolle der koptischen Sprache und des Klerus für den Erfolg von Champollions Mission.
Den eurozentrischen Blick weiten
Ein gewisses Rätsel geben die Karten auf, die jeweils neben den Exponaten ausgelegt sind. Sie zeigen Bilder von Kindern aus Schulen in Rashid und deren Antworten auf Fragen nach der Bedeutung bestimmter altägyptischer Symbole: "Das sieht aus wie ein Hubschrauber.“ "Das ist eine Geburtstagstorte oder die Sonne.“ "Das ist ein Käfer.“
Der Versuch der Ausstellungsmacher, den eurozentrischen Blick zu erweitern, zeigt zwar einen kritischen Ansatz und das Bemühen um die Revision bisheriger Sichtweisen, bleibt aber dennoch weitgehend dekorativ. Auch die Zitate ägyptischer Hochschullehrer tragen wenig zur Diversität der Stimmen bei, handelt es sich doch lediglich um kurze Kommentare oder Fußnoten zu Champollion. Vermutlich stammen die Zitate aus westlichen Quellen.
Die Bilder von lächelnden Schulkindern und ihre unbeschwerten Bemerkungen lockern die Ausstellung auf. Auch dienen sie wirkungsvoll dazu, die Informationsflut zu unterbrechen, die jedes Exponat der Sammlung begleitet. Leider unterstreichen sie – neben vielen anderen Exponaten – ungewollt, welche untergeordnete Rolle den "Einheimischen“ in der Rangordnung von Wissen und Werten zukommt. Wie bereits in früheren Zeiten.
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers