"Der Islam gibt uns Spielraum zum Denken"
Herr Hendricks, Sie kommen aus einer muslimischen Familie in Südafrika. Wann haben gemerkt, dass Sie schwul sind?
Muhsin Hendricks: Als ich fünf Jahre alt war, auch wenn ich das Wort "schwul" noch nicht kannte. Aber mein Verhalten war sehr unmännlich. Als ich in die Pubertät kam, fühlte ich mich erstmals von einem Jungen in meiner Klasse angezogen und mir wurde klar, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Mein Großvater war Imam und predigte, dass es diese Menschen gibt, die in die Hölle kommen. Da fragte ich mich: Bin ich schlecht? Bin ich einer von denen? Das zwang mich herauszufinden, warum mich dieser gnädige und barmherzige Gott nicht akzeptieren sollte.
Sie gingen nach Pakistan, um an der Universität von Karatschi Islam zu studieren. Waren Sie da schon überzeugt, dass es zwischen Homosexuell- und Muslimischsein keinen Widerspruch gebe?
Hendricks: Insgeheim wusste ich, dass es nicht Gott war, sondern meine Gemeinschaft, die mich ablehnte. Ich hatte es mir ja nicht ausgesucht, schwul zu sein.
Warum haben Sie dennoch eine Frau geheiratet?
Hendricks: Sozialer Druck. Ich wollte zumindest versuchen, mit einer Frau zusammen zu sein? Das würde mich vielleicht heilen, dachte ich. Es gab eine Frau, die in mich verliebt war. Ich sagte ihr, ich sei homosexuell und würde versuchen, das zu ändern. Sie war glücklich, mich zu heiraten, merkte aber später, dass es nicht funktionierte. Sie war nicht erfüllt und ich lebte ein Doppelleben.
Sie sind Leiter der Organisation "The Inner Circle", die queere Muslime unterstützt. Was für Probleme haben diese Menschen?
Hendricks: Viele haben Angst, ihre Familien zu verlieren, von den Eltern verstoßen oder enterbt zu werden. Einige suchen Halt in Drogen und Alkohol und legen ein rücksichtsloses Sexualverhalten an den Tag. Andere fallen vom Glauben ab oder begehen Selbstmord. Ist es das, was Gott will? Der Koran wurde als Heilung und Barmherzigkeit für die gesamte Menschheit offenbart. Was ist mit den 10 bis 15 Prozent, die die Auslegung des Korans nicht als Heilung und Barmherzigkeit empfinden? Ist der Koran falsch? Oder sollten wir weiter forschen und nach Interpretationen suchen, die auch diesem Teil der Gemeinschaft Heilung und Barmherzigkeit bringen?
Auf Arabisch werden Homosexuelle teils als "loti" bezeichnet. Den Propheten Lot sandte Gott dem Koran zufolge nach Sodom und Gomorra, wie das Land in der Bibel heißt. Später bestrafte er die "Leute des Lot" für ihre Sünden – darunter schwuler Sex.
Hendricks: Ich habe ein Problem mit dem Begriff "schwuler Sex", weil "schwul" in Sodom und Gomorra nicht existierte. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten haben die Menschen angefangen, über Homosexualität im Islam zu sprechen. Im goldenen Zeitalter des Islam zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert stieß Homosexualität auf hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Unter der Herrschaft des Kalifen Harun al-Raschid schrieb der Dichter Abu Nuwas zum Beispiel ausführlich homoerotische Poesie. Das wurde toleriert.
Wie interpretieren Sie die Geschichte von Sodom und Gomorra?
Hendricks: Sie handelt nicht von Homosexualität. Die Untaten, die die "Leute von Lot" begingen, reichen von Polytheismus über Raub bis hin zu wirtschaftlicher Ausbeutung und Vergewaltigung. Im Tempel Ischtars – der Liebes- und Kriegsgöttin – wurden Orgien gefeiert, nicht nur zwischen Männern, sondern auch zwischen den Tempelprostituierten. Und Frauen wurden unter babylonischer Herrschaft gezwungen, Ischtar vor der Heirat ihre Jungfräulichkeit zu opfern.
Wie sind Sie zu der Auslegung gekommen, dass die Geschichte von Sodom und Gomorra nichts mit Homosexualität zu tun hat? Islamische Gelehrte weltweit würden widersprechen.
Hendricks: Wer den Koran studiert, lernt als erstes, dass die Verse sogenannte asbab al-nusul (Anlässe der Offenbarung) haben. Für jeden Vers gibt es einen Grund, warum er offenbart wurde. Jede Geschichte hat einen Kontext. Ich habe also überprüft, was das Alte Testament über Sodom und Gomorra sagt, habe den jüdischen Philosophen Flavius Josephus studiert und mir die archäologischen Funde von Sodom und Gomorra angeschaut, die Tontafeln von Ebla, die 1974 in Syrien gefunden wurden. All das gibt mir Background zu der Geschichte.
Welche Rolle spielt dann noch der Koran?
Hendricks: Am Ende bin ich zum Koran zurückgekehrt und habe die Dinge miteinander in Verbindung gesetzt. Im Koran muss die Geschichte von Sodom und Gomorra zusammengesetzt werden, weil sie über 76 Verse und neun Kapitel verteilt ist. Man kann nicht einfach einen Vers herauspicken und behaupten: "Gott sagt, Männer sollen nicht nach Männern gieren."
Gelehrte stützen ihre Argumente gegen Homosexualität auch auf die Hadithe, die Berichte über das Leben des Propheten Mohammed.
Hendricks: Sie zitieren Hadithe, die nicht authentisch sind. Ein berühmter Hadith besagt, dass zwei Männer, die sich der Tat des Lot schuldig machen, getötet werden müssen. Jedoch haben führende Hadith-Gelehrte wie Al-Bukhari, Al-Nasa'i, Al-Tirmidhi oder Ibn Majah eindeutig gezeigt, dass dieser Hadith nicht authentisch ist. Warum benutzen die den noch? Warum nutzen sie Hadithe, die allein ihren eigenen patriarchalischen Bedürfnissen dienen?
Wenn weder die Geschichte von Sodom und Gomorra noch die Hadithe etwas über Homosexualität aussagen, worauf basieren Ihre Argumente?
Hendricks: Einige Verse im Koran weisen auf nicht-binäre Geschlechtsidentitäten hin. Ein Beispiel ist Sure 17:84, die besagt, dass jeder nach seiner eigenen shakila handelt, so wie Allah ihn geschaffen hat. Die Menschen sind von Natur aus so, wie sie sind, und es ist nicht an uns, darüber zu urteilen. In Sure 24:31 und 24:60 erwähnt Allah, dass unter den Bediensteten im Haus des Propheten – Friede sei mit ihm – Männer waren, die sich nicht von Frauen angezogen fühlten. Und Später heißt es, dass es Frauen gibt, die nicht aktiv sind. Dieser Vers wird traditionell als Hinweis auf alte Frauen ausgelegt, die keine Heiratsanträge mehr bekommen. Aber es gibt auch andere Frauen, die keinen Mann heiraten wollen. Lesben zum Beispiel.
Indem Sie Koranverse neu interpretieren und sich Ihr eigenes Urteil bilden, greifen Sie direkt auf eine Quelle des Islams zurück, statt sich an traditionellen Auslegungen zu orientieren.
Hendricks: So sollte man mit dem Koran verfahren. Andere Imame zitieren oft einen Koranvers hier und einen Hadith da und fügen dann ein bisschen Gefühl und Schuldzuweisung hinzu. Aber ich halte mich an die Grundsätze der Interpretation. Dabei muss ich mein Denkvermögen nutzen. Der Koran ist zwar göttlich, sobald Gelehrte ihn aber interpretieren, ist menschliches Tun im Spiel.
Stoßen Sie mit Ihrer Arbeit auf Widerstand?
Hendricks: Das Schlimmste, was ich bekommen habe, sind böse Anrufe und Emails. Die Imame, die meine Arbeit nicht unterstützen, sind nicht bereit, das Thema zu diskutieren. Für sie ist Homosexualität haram. Basta. Der Islam gibt uns aber Spielraum zum Denken. Natürlich dürfen wir den Koran nicht verändern, unsere Interpretation aber schon. Die Welt, in der wir leben, ist eine andere als vor über eintausend Jahren. Wir müssen uns wieder dem Koran zuwenden und sehen, wie der Islam auch jenem Teil der Gemeinschaft Barmherzigkeit erweisen kann, der im Moment leidet.
Das Interview führte Jannis Hagmann.
© Qantara.de 2014
Muhsin Hendricks, 47, ist ein islamischer Gelehrter aus Südafrika. Er hat Arabisch und Islamwissenschaft an der Universität von Karatschi, Pakistan, studiert und ist Direktor der Organisation "The Inner Circle", die queeren Muslimen hilft, den Islam mit ihrer sexuellen Orientierung in Einklang zu bringen. Hendricks arbeitet als Imam für die muslimische LGBTI-Gemeinde in Kapstadt.