Abrechnung mit dem politischen Erbe Suhartos
In der Nacht auf den 23. März 2011 wurden die Fenster der McDonald's-Filiale in der süd-sulawesischen Provinz-Hauptstadt Makasser mit Ziegelsteinen eingeschmissen. Die Täter hinterließen eine Botschaft am Tatort, die lautete: "Wir wissen, was transnationale Konzerne einfachen Leuten antun. Wir sind wütend und werden weiter gegen euch vorgehen!"
Drei Tage später fand die Polizei in Makasser eine weitere Mitteilung neben einem ausgebrannten Bankautomaten: "Wir wollen niemanden verletzten. Die Zerstörung des Eigentums ist kein Gewaltakt! Der Staat, das Militär, die Polizei und die Kapitalisten sind die wahren Terroristen!" Unterzeichnet wurde das Papier von einer Gruppe, die sich als "Gott ist tot - Front der Aufständischen" bezeichnete.
In den darauffolgenden zwei Monaten brannten weitere Bankautomaten in Manado auf der Insel Sulawesi und in Bandung auf Jawa. Anarchie – ein Novum für Indonesien.
Bereits seit dem Ende der Regierung der Suharto 1998 etablierten sich Gruppen wie "Marjinal" und "Taring Babi" als öffentliches Gesicht der Anarcho-Punk-Szene. Zumeist schlossen sich Jugendliche aus der Unterschicht anarchistischen Gruppierungen in Großstädten wie Jakarta, Bandung und Yogyakarta an. Ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen fanden ihren Niederschlag oft in friedlichen sozialen Aktivitäten. Doch diese wurden von anarchistischen Hardlinern immer wieder verächtlich als "reiner Mainstream" abgestempelt.
Anfänge des gewaltbereiten Anarchismus
Gewaltbereite Anarchisten schlossen sich erstmals in den 1980er Jahren in Italien zusammen. Kurz darauf bildeten sich Zellen im gesamten Mittelmeerraum, in Anlehnung an die Anti-Globalisierungsbewegung des "Schwarzen Blocks". Seit Anfang 2000 vernetzen sich autonome Gruppen in ganz Europa unter dem Deckmantel der „Informellen Anarchisten Föderation (FAI)", deren Ideologie den klassischen Anarchismus und die von Marx geprägten Formen des zivilen Ungehorsams ablehnen. Aber erst durch die Wirtschaftskrise 2008 in Griechenland wurde der Bewegung neues Leben eingehaucht – von dort fand sie ihren Weg auch nach Indonesien.
Die FAI und andere Kollektive erklären jegliche Art von Organisation und Reformismus als kontraproduktiv. Als die Indonesier 2013 gegen die geplante Reduzierung der Treibstoffsubventionen demonstrierten, meldete sich eine anarchistische Zelle im Internet wie folgt zu Wort: "Wir sind nicht daran interessiert, an den Massenprotesten teilzunehmen. (…) Jene Menschen, die auf den Straßen Banner hochhalten und skandieren, greifen zu Aktionen, die sich wiederholen und vorhersehbar sind und als "friedlicher Protest" firmieren, da sie in Wirklichkeit unfähig sind, ihre Unterdrücker direkt zu attackieren."
Die Aufmerksamkeit, die die ausgebrannten Geldautomaten in Makassar, Manado und Bandung erhielten, motivierte das anarchistische Duo Billy Augustian und Reyhard Rumbayan (auch bekannt als "Eat"). Im Oktober 2011 gossen sie zwei Liter Benzin in einen Geldautomaten der "Rakyat Indonesia Bank" in Yogyakarta und zündeten ihn an. Doch auf der Flucht verlor einer von ihnen seine Brieftasche mit zahllosen Drohbotschaften, weshalb beide innerhalb weniger Stunden von der Polizeigefasst und verhaftet werden konnten.
Indonesiens Anarchisten im internationalen Fokus
In einem sichergestellten Kommuniqué von Billy und "Eat" wurde der Bergbaufirma "PT Jogja Magaza Iron" mit Gewalt gedroht. Zuvor hatten sich bereits Landwirte gegen Projekte des Unternehmens in der Region von Yogyakarta zur Wehr gesetzt. Die Insignien in dem Schreiben des Duos machten deutlich, dass die Täter auch international vernetzt sein mussten.
Im Juni 2011 wurde der chilenische Anarchist Luciano Tortuga inhaftiert nachdem er beide Hände durch eine vorzeitig explodierende Bombe verlor. Anarchistische Zellen in Chile riefen daraufhin zur Solidarität mit Tortuga auf. Der Aufruf breitete sich schnell in anarchistischen Foren im Internet aus.
FAI-Gruppen aus der ganzen Welt reagierten: In Bristol wurden die Scheiben einer Bank eingeschmissen und in Mailand zahlreiche Geldautomaten zerstört. Aber den größten Akt der Solidarität mit Tortuga erwiesen Billy und "Eat", indem sie ihre Zelle "Lang Lebe Luciano Tortuga" nannten. Ihre Verhaftung machte sie schlagartig zu zentralen Figuren der internationalen anarchistischen Bewegung.
Solidaritätsbekundungen mit den Inhaftierten kamen unter anderem aus Manila. Im Mai 2012 wurde dort die Wand der indonesischen Botschaft mit schwarzer Farbe beschmiert und Flugblätter in der Gegend mit folgendem Inhalt verteilt: "Freiheit für Billy und 'Eat', Opfer der staatlichen Repression (…). Der indonesische Staat ist der wahre Terrorist!"
In der Folge wuchs die "Lang Lebe Luciano Tortuga"-Zelle über 'Eat' und Billy hinaus. Im August 2012 war eine Gruppe mit demselben Namen im Norden Sulawesis aktiv, während das Duo noch im Gefängnis saß. Sie legte Brandsätze in zwei Kraftwerken und entsandte in einem Bekennerschreiben "Grüße aus dem Feuer in den Straßen zu unseren beiden kämpfenden Mitgliedern der Zelle 'Lang Lebe Luciano Tortuga' (Internationale Revolutionäre)".
Die Internationalisierung des Widerstands
Die Sulawesi-Gruppe begann sich immer stärker international zu vernetzen mit anderen FAI-Zellen und veröffentlichte politische Kommuniqués mit globalen Bezügen. Zwar ist es eher selten, dass indonesische Anarchisten nach Europa, Lateinamerika oder in andere Regionen reisen, dennoch fällt auf, dass sie verstärkt ideologische Denkmuster ihrer europäischen Gesinnungsgenossen übernehmen.
Obwohl indonesische Anarchisten noch von tödlichen Gewaltakten absehen, gefährdet die Radikalisierung der militant-anarchistischen Gruppen zunehmend die Sicherheit der Inselrepublik. Im November 2012 veröffentlichte eine indonesische Zelle einen "internationalen Aufruf zur direkten Aktion gegen das Eigentum der Gesellschaft, der Faschisten, des Militärs und all unserer Feinde." Drei Tage später bekannte sich dieselbe Zelle einen Brand in einer Grundschule in Manado gelegt zu haben. Im Januar 2013 folgten weitere Anschläge einer anderen FAI-Gruppe in Nord-Sulawesi.
Die Radikalisierung der Bewegung wird auch dem Fehlverhalten der indonesischen Polizei angelastet. In einem "offenen Brief" der Anarchisten vom September 2013 wird die Verhaftung von Billy und "Eats" als "Ausgangspunkt, durch den alles klarer geworden ist" bezeichnet. In dem Pamphlet werden sogar islamistische Gruppierungen für ihre "mutige Wahl" gelobt, einen "gewalttätigen Dschihad" zu führen. Und weiter: Die Bildung von Zellen mit drei bis vier Personen sei das "Erfolgsrezept" der Dschihadisten.
Späte Reaktion auf die Suharto-Diktatur
Zweifelsohne profitieren Indonesiens Anarchisten vom ideologischen Vakuum und dem Fehlen einer kohärenten linken Szene im Land. Durch das Fehlen einer großen linken Bewegung können sich die Anarchisten in einem weitgehend entleerten ideologischen Raum ausleben. Für indonesische Jugendliche, die der urbanen Gesellschaft den Rücken kehren, stellt der Anarchismus eine fortschrittliche und attraktive Alternative zur Konsumgesellschaft dar.
Radikale Wortführer der Szene setzen ihre anarchistischen Parolen und Kampfansagen gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung des Landes in Taten um, indem sie religiöse Fundamentalisten in Aceh an den Pranger stellen, die kapitalistische Ausbeutung in Java und die militärische Gesetzlosigkeit in Papua kritisieren und zur "direkten Aktion" greifen.
Der militante Anarchismus in Indonesien stößt wohl auch deshalb heute auf eine zunehmend positive Resonanz bei der jüngeren Generation, weil das Suharto-Regime seit den 1960er Jahren linke Oppositionelle rücksichtslos verfolgen ließ und sich nach dem Zusammenbruch der Diktatur viele politische und soziale Aktivisten nach einem neuen linksradikalen Aufbruch als Antwort auf die jahrzehntelange Unterdrückung sehnen.
Dominic Berger
© Inside Indonesia 2013
Übersetzt aus dem Englischen von Juliane Metzker
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de