Wir müssen endlich über unsere Bringschuld sprechen
Deutschland hat ein Rassismusproblem. Und unser Land muss sich ernsthaft überlegen, was es dagegen tun kann. Dazu gehört – neben der offenen Ansprache des Problems –, dass wir uns auf unsere demokratischen Verantwortlichkeiten besinnen, diese ganz klar abstecken und von jedem Mitglied der Gesellschaft einfordern.
Mit der permanenten Verhandlung darüber, was man von Minderheiten in diesem Land fordern darf und muss, gelangen wir nicht zum Ziel. Es besteht längst Einigkeit, dass die Sprache gelernt und die Gesetze dieses Landes von Neuankömmlingen eingehalten werden müssen. Niemand bestreitet das.
Nein, wir müssen endlich darüber sprechen, was unsere Bringschuld ausmacht. Und eine solche haben wir de facto. Es ist deutsche Politik gewesen, "Gastarbeiter" ins Land zu holen. Sie und ihre Nachkommen arbeiten nun hier und zahlen Steuern.
Alle waren überrascht
Sie sind keine Gäste mehr. Sie sind es ebenso wenig, wie es die Übersiedler aus der ehemaligen DDR sind. Ferner tragen wir als Gesellschaft Verantwortung für die Menschen, die bei uns in Deutschland Schutz suchen, denn wir sind nun einmal nicht gänzlich unschuldig an der Misere in vielen Ländern.
Unsere Politik hat jahrelang mit Staaten verhandelt und zusammengearbeitet, die später dann in Ungnade gefallen sind. Kurz vor dem "Arabischen Frühling" 2011 gab es in fast allen europäischen Hauptstädten sehr ähnliche Bilder zu sehen: Die Diktatorenschaft von Syriens Assad, Ägyptens Mubarak bis hin zu Libyens Gaddafi lag sich mit europäischen und amerikanischen Staats- und Regierungschefs in den Armen.
Sie wurden im Élysée, in der Downing Street, im Kanzleramt und im Weißen Haus wie gute, alte Freunde empfangen. Umso verdutzter schauten all die europäischen Staatenlenker drein, als der "Arabische Frühling" begann.
Was auch das völlige Versagen der Europäischen Union angesichts dieser Umbrüche erklärt. Die runzelnden Stirnen in Brüssel waren förmlich zu sehen: Was denn nun? Was sollen wir denn jetzt machen? Was kommt denn nach den Mubaraks und Gaddafis?
Alle waren vollkommen überrascht. Niemand hatte – und wollte es wohl auch nicht – ernsthaft darüber nachgedacht, wie man die Diktaturen jenseits des Mittelmeeres beseitigen konnte.
Wir drücken beide Augen zu
Heute macht man den gleichen Fehler noch einmal: Aus Angst vor Flüchtlingen und aus Angst vor Islamisten gibt man sich eiligst damit zufrieden, dass in Ägypten mit Al-Sisi jemand noch Schlimmeres als Mubarak ans Ruder zurückgekehrt ist. Der Zorn über die erneute Unterdrückung in Ägypten wird sich in einigen Jahren oder Jahrzehnten wieder Bahn brechen.
Noch immer sehen wir beispielsweise Saudi-Arabien als Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus und übersehen bewusst, wie gerade von dort aus seit Jahrzehnten ideologische Grundlagen für ebenjenen Terrorismus exportiert werden. Wir beliefern ein Unrechtsregime mit Waffen, Panzern und anderen militärischen Ausrüstungen.
Wir wollen keinen EU-Beitritt der Türkei, tun aber einiges, um den Nato-Bündnispartner milde zu stimmen, damit er geflüchteten Menschen davon abhält, in Richtung Mitteleuropa weiterzuziehen. Es ist uns sogar mehrere Milliarden Euro wert. Wir drücken beide Augen zu, wenn Menschenrechte verletzt und demokratische Prinzipien ausgehebelt werden.
Deutschland ist einzigartig
Die neuen Deutschen, die derzeit kommen, werden uns tatsächlich einiges kosten. Wir müssen in Bildung, Integration, Soziales und Arbeit investieren. Experten rechnen mit einem Betrag von über 15 Milliarden Euro, um diese Aufgaben zu stemmen. Und doch stehen diese Zahlen noch immer im Schatten derer, die bei der Bankenrettung genannt wurden.
Auch wenn es andere stabile Demokratien auf dieser Welt gibt, so ist Deutschland doch einzigartig. Unsere Werte speisen sich vor allem aus der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert und aus den Lehren aus der Barbarei des 20. Jahrhunderts.
Sie wurzeln in der Philosophie und in der Moral und der Ethik des Judentums, des Christentums und auch des Islams. Die Zutaten für die Renaissance und die Rezepturen dazu haben wir bekanntlich von den Arabern, Persern und Osmanen erhalten.
Wir müssen wieder mehr auf uns selbst schauen
Wenn wir in der Welt beweisen und auch vorführen wollen, dass wir Wort halten und uns diese Werte tatsächlich etwas wert und keine hohlen Worthülsen sind, dann müssen wir uns dieser Zerreißprobe, vor der wir stehen, stellen.
Denn dass eine gesamte Gesellschaft die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit annimmt, ist eine Utopie. So wie die Vorstellung, dass alle Menschen irgendwann einmal gut sein werden. Es wird immer Quertreiber geben, die aus persönlichem Antrieb oder aus Machtgelüsten heraus handeln.
Es ist die immerwährende Aufgabe einer Gesellschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Dazu ist Mut erforderlich, um klare Kante gegen die Unverbesserlichen zu zeigen und um Anfeindungen zu ertragen. Statt immer auf die anderen zu gucken und von ihnen etwas zu verlangen, müssen wir wieder mehr auf uns selbst schauen.
Unsere Gesellschaft benötigt mehr Respekt, Wertschätzung und Empathie für Minderheiten und muss wieder lernen, Mehrheitsentscheidungen zu respektieren. Wenn sie nicht in unserem Sinne ausgefallen sind, kennen demokratische Gesellschaften genügend Instrumente, um dagegen anzugehen.
Angst vor dem Wandel
Gesellschaften sind einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Wir können ihn gestalten und dabei für das Wohl aller sorgen.
Wir leben in Zeiten, in denen alles möglich ist. Wirklich alles.
Wer hätte noch vor einigen Jahren gedacht, dass eine nennenswerte Anzahl von Bürgern in Europa bereit wäre, die europäische Wertegemeinschaft mitsamt ihren Vorteilen für jeden Einzelnen abzuschreiben und zu verlassen?
In diesem Sinne gab es in Großbritannien am 23. Juni 2016 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU eine deutliche Antwort. Wochenlang hatten Rechtspopulisten getrommelt und Gegner verunglimpft. Es kam zum Brexit und damit auch ein Stück weit zum "Demokrexit".
Nicht der Frust über die Brüsseler Bürokratie oder die Intransparenz europäischer Institutionen haben das Votum möglich gemacht, wie viele politische Beobachter behaupten.
Der Brexit ist vor allem das Ergebnis einer Verweigerungshaltung zu den Rechten von fremdstämmigen Minderheiten. Und er ist Ergebnis der Angst vor Wandel, insbesondere bei den mittleren und älteren Generationen.
Die Wahlanalysen sprechen hier eine deutliche Sprache. Vor allem ältere Menschen haben für den Brexit gestimmt – weil sie ihr "altes" England wiederhaben wollten. Und das heißt für sie vor allem: weniger Ausländer.
Der Brexit ist ein Super-GAU
Wissenschaftskollegen mit ausländischen Wurzeln berichteten, unmittelbar nach dem Brexit habe sich die Stimmung in England deutlich gewandelt. Manche wurden auf offener Straße bedroht und zum Verlassen des Landes aufgefordert. Ausländische Einrichtungen wurden mit Parolen beschmiert. Ein Hauptversprechen der Brexit-Befürworter war es nämlich: Wir setzen die Migranten vor die Tür.
Der Brexit ist für mich ein mahnendes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn wir der Angstmacherei weiter freien Lauf lassen. Manchmal brauchen wir mahnende Beispiele, um zu begreifen, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, die vor einer Zerreißprobe steht.
Der Brexit ist in jeder Hinsicht ein Super-GAU. Vermutlich hat wirklich kaum jemand damit gerechnet, dass das passieren könnte. Es ist die Absage an ein gemeinsames Europa der Vielfalt – ein Europa ohne Grenzen. Es ist ein lautstarkes Nein zu einer multireligiösen, multikulturellen, offenen und freiheitlichen Gesellschaft.
Wer sind wir?
Wir sollten uns ernsthaft Sorgen machen – jetzt erst recht. Wir dürfen unsere Zukunft nicht denen überlassen, die am schrillsten rufen und mit ihrem völkischen Anliegen unsere Demokratie systematisch aushöhlen, mit ihrem organisierten Hass die Basis eines friedlichen Zusammenlebens aushebeln.
Nach ihren Vorstellungen finden demokratische Werte nur gegenüber von ihnen ausgewählten Bürgern Anwendung. Dass so schrittweise Grundrechte und mithin eben die Demokratie geschwächt werden, ist eine Wahrheit, die jedem bekannt sein muss.
Die wichtigsten Fragen, die wir uns stellen müssen und auf die wir dringend Antworten benötigen, sind: Wer sind wir? Wo steht unsere Gesellschaft? Mit welchen moralischen Werten wollen wir künftig miteinander leben?
Wir leben in Zeiten, in denen alles möglich ist. Wirklich alles.
Lamya Kaddor
© 2016 Rowohlt Berlin Verlag GmbH
Bei diesem Essay handelt es sich um einen Auszug aus: "Die Zerreißprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht".
Die Autorin ist eine deutsche muslimische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und syrischer Herkunft. Kaddor ist Vorstandsmitglied des Liberal-Islamischen Bundes.