Der lange Weg zur ersten christlich-muslimischen Kita 

Interreligiöse Projekte sind für lokale Moscheegemeinden und islamische Verbände eine gute Gelegenheit, Vertrauen aufzubauen und an Ansehen zu gewinnen. Sie treffen dabei allerdings auf bürokratische Hürden, ganz zu schweigen von den Vorbehalten der Politik und größeren Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegenüber islamischer Erziehung.
Interreligiöse Projekte sind für lokale Moscheegemeinden und islamische Verbände eine gute Gelegenheit, Vertrauen aufzubauen und an Ansehen zu gewinnen. Sie treffen dabei allerdings auf bürokratische Hürden, ganz zu schweigen von den Vorbehalten der Politik und größeren Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegenüber islamischer Erziehung.

Frühkindliche Bildung ist zentral für eine erfolgreiche Bildungskarriere. Dennoch nehmen muslimische Eltern in Deutschland das Angebot in Kindertagesstätten seltener an als andere. Ein interreligiöses Projekt im niedersächsischen Gifhorn fördert die Integration zusammen mit kirchlichen und kommunalen Akteuren. Von Arndt-Walter Emmerich 

Von Arndt-Walter Emmerich

Die erste muslimisch-christliche Kindertagesstätte Deutschlands wurde 2018 im niedersächsischen Gifhorn eingeweiht. Für die Vertreter der christlichen und muslimischen Gemeinden am Ort ist die Einrichtung eine neue Form des institutionalisierten Dialogs, der "Streitschlichter“ und "resiliente Kinder“ hervorbringen soll, die "weniger anfällig für Gewalt“ sind.

Andere Interessenspartner betrachten die muslimisch-christliche Kita als potenzielles "Franchise“, als "Modellprojekt“ und "Start-up“, das positive Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohlergehen der Region haben werde. Die Initiative von Gifhorn zur interreligiösen Bildung zeigt so, wie wirtschaftliche Interessen und Integrationspolitik zunehmend Hand in Hand gehen. Kulturelle und religiöse Kompetenz im Arbeitsleben sind für den privaten und den öffentlichen Sektor gleichermaßen von wachsendem Interesse. 

Gifhorn hat – wie andere Kommunen auch – Schwierigkeiten, genügend Kita-Plätze für alle Eltern zur Verfügung zu stellen. In der institutionellen Bildung werden daher neue Wege von der Politik begrüßt und auch finanziell gefördert. Kirchen nutzen das Defizit bei den Betreuungsplätzen, um mit eigenen Angeboten finanzielle Ressourcen zu generieren, ihr konfessionelles Profil zu stärken und dezidiert christliche Lehrpläne anzubieten. Muslimische Gemeinden dürften ähnliche Bildungspläne haben, setzen diese aber nur selten um. 

Die Zulassung von Kitas in muslimischer Trägerschaft wird streng geprüft. Auch das erklärt, warum es bundesweit weniger als 40 muslimische Kitas und keine einzige in Niedersachsen gibt. Interreligiöse Projekte sind für lokale Moscheegemeinden und islamische Verbände eine gute Gelegenheit, Vertrauen in der Kommune aufzubauen und an Ansehen zu gewinnen. Sie treffen dabei allerdings auf bürokratische Hürden, ganz zu schweigen von den Vorbehalten der Politik und größeren Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegenüber islamischer Erziehung. 

Interreligiöse Zusammenarbeit in Gifhorn 

Ich selbst bin zwischen 2018 und 2020 mehrmals in Gifhorn gewesen und habe Gespräche mit Vertretern von Moscheen und Kirchen, Mitgliedern verschiedener Gemeinden, dem pädagogischen Personal der Kitas, Eltern, Kommunalpolitikern, der Stadt und Experten auf Landes- und Bundesebene in Niedersachsen geführt. Darüber hinaus nahm ich an Kita-Aktivitäten, an Gottesdiensten, an Tagen der offenen Moschee und am Treffen eines Interkulturellen Rats teil.

Interreligiöser Gipfel in Schloß Gifhorn (Foto: © Gifhorner Rundschau 2015)
Von der Idee bis zur interreligiösen Kita: Am Treffen auf Schloss Gifhorn im April 2015 nahmen 120 Delegierte verschiedener christlicher Konfessionen und Moscheen teil. Ein muslimischer Vertreter sprach einen irritierenden Punkt an: "Wir wurden eingeladen, um über einen Beitrag zu unserer Stadt zu sprechen. Doch wir wurden hauptsächlich mit sicherheitsbezogenen Fragen zum Islam konfrontiert.“ Trotz mancher Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit mit muslimischen Vertretern wurden hinter den Kulissen informelle Gespräche fortgesetzt. Nach der Veranstaltung trafen sich lokale Vertreter der katholischen Kirche mit lokalen muslimischen Vertretern: Nach zwei Stunden waren sich die Beteiligten einig, dass es keine wirklichen Hürden gab.



Die Kreisstadt Gifhorn mit rund 43.000 Einwohnern ist von einer jahrzehntelangen Migration und einer langen Tradition des interreligiösen sowie interkulturellen Dialogs geprägt. Bereits 1986 wurde das "Europa Fest“ ins Leben gerufen, um die damals zunehmenden Spannungen zwischen bereits Zugewanderten aus der Türkei und den Neuankömmlingen aus der Sowjetunion abzubauen.

Allerdings dauerte es bis Januar 2015, bevor die Idee einer interreligiösen Kita Gestalt annahm. Die lokale Tageszeitung, Gifhorner Rundschau, veröffentlichte damals ein Interview mit dem Vorsitzenden der Moscheegemeinde und zwei Vertretern der christlichen Kirchen im Rahmen einer Serie über Religionen in der Region. 

Nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Jesiden und Muslimen in der Nachbarstadt Celle im Oktober 2014 thematisierte die Rundschau mit ihrer Serie den sozialen Zusammenhalt in Gifhorn. Damals stand die Frage im Raum, "ob es auch in Gifhorn zu derartigen Gewaltausbrüchen kommen kann“. Das Interview fand statt vor dem Hintergrund des islamistischen Terroranschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar 2015.

Der Moscheevorsitzende wurde damals vom Veranstalter gefragt, wie er sicherstellen könne, dass der Islam in Gifhorn nicht für politische Zwecke manipuliert werde. Auch wurde er gefragt, was er davon halte, seine Kinder in eine christliche Kita zu schicken. 

Eine Idee wird geboren

Wegen der demografischen Entwicklung in seiner Gemeinde äußerte der Moscheevorsitzende allerdings den Wunsch, eine eigene Kita zu eröffnen. Der katholische Vertreter entgegnete: "Das verstehe ich, halte es aber für falsch. Ich schlage stattdessen vor, zusammenzuarbeiten und gemeinsam eine Kita zu eröffnen.“ Der für seinen Pragmatismus bekannte Moscheevorsitzende, der sich auch stark in der muslimischen Jugendarbeit engagiert, stimmte zu. Die Idee der ersten muslimisch-christlichen Kita in Deutschland war geboren. 

Das Vorhaben einer gemeinsamen Kita gab man bei einem interreligiösen Treffen auf Schloss Gifhorn im April 2015 bekannt. Am Treffen nahmen 120 Delegierte verschiedener christlicher Konfessionen und Moscheen teil. Es gab einen Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen, die die öffentliche Debatte in den nächsten drei Jahren prägen sollten.



Dabei wurden auch Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit mit Muslimen laut. Ein muslimischer Vertreter sprach einen irritierenden Punkt an: "Wir wurden eingeladen, um über einen Beitrag zu unserer Stadt zu sprechen. Doch wir wurden hauptsächlich mit sicherheitsbezogenen Fragen zum Islam konfrontiert.“ 

Nach Ende des Treffens wurden hinter den Kulissen informelle Gespräche fortgesetzt. Vertreter der katholischen Kirche trafen sich mit Vertretern der Moscheegemeinde: Nach zwei Stunden waren sich die Beteiligten einig, dass es keine wirklichen Hürden gab. Die evangelische Kirche, in der Region die größte christliche Gemeinschaft, und deren Einrichtung Diakonie mit 1200 Mitarbeitern vor Ort wurden eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen.

Türschild an der Kindertagesstätte (Foto: © Arndt Emmerich) 
Trotz AfD-Kampagne: Die christlich-muslimische Kita konnte anfangs die vorgegebenen Anmeldezahlen nicht erreichen. Die Eröffnung verschob sich um ein Jahr. Monatelang stand die Kita im Visier örtlicher Rechtspopulisten. Die aggressive AfD-Kampagne löste allerdings das Gegenteil dessen aus, was die Rechtspopulisten wollten: Fest entschlossen, sich von einer Randgruppe nicht die Belange der Zivilgesellschaft diktieren zu lassen, setzten sich die Moscheegemeinde und die Kirchengemeinden am Ort dafür ein, alle freien Kita-Plätze zu besetzen, sodass die Einrichtung schließlich im August 2018 ihre Türen öffnen konnte.



Ab Herbst 2016 fanden monatliche Treffen zwischen der Moscheegemeinde, der katholischen Kirche und der evangelischen Diakonie statt. Den Teilnehmern sind diese Treffen als "freundschaftlich“ in Erinnerung geblieben. 

Bis zum Jahresende 2017 konnten die meisten Fragen geklärt werden – ob Halal-Essen für alle Kinder, Deutsch als Unterrichtssprache oder die Einigung auf wesentliche pädagogische Konzepte. Mittlerweile hatten sich auch der Stadtrat und der Bürgermeister eingeschaltet. Die Aufmerksamkeit in den Medien nahm zu, was nicht zuletzt auf die wachsende Polarisierung in Deutschland zurückzuführen war.

Derweil hatte die Spitzel-Affäre um den türkischen Moscheeverband DİTİB zu politischen Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei geführt, was der feierlichen Unterzeichnung der Vereinbarung zur Gründung der Kita am 28. April 2017 im Gifhorner Rathaus aber nicht im Wege stand.

Eine Kita zwischen nationalen und internationalen Spannungen 

Im Juni 2017 lancierten örtliche Vertreter der rechtspopulistischen AFD eine Kampagne und forderten dazu auf, die Kita nicht "christlich-muslimisch“, sondern "multireligiös“ zu nennen.  Dass die Kita nicht wie ursprünglich geplant im Oktober 2017 eröffnet werden konnte, weil die vorgeschriebenen Anmeldezahlen nicht erreicht wurden, war Wasser auf die Mühlen der AFD-Kampagne.

Erschwerend kam ein Problem mit dem vorgesehenen Standort der Einrichtung hinzu, was die Unsicherheit weiter verschärfte. Eltern äußerten jetzt Bedenken wegen der Dominanz der türkischen Sprache und wegen Gerüchten, die Kita könnte eine "christliche Missionseinrichtung“ sein. Angesichts der schwindenden politischen Unterstützung wäre das Projekt Anfang 2018 beinahe gescheitert. Ein Mitglied der Träger bezeichnete diese Zeit als "echten Tiefpunkt“.

Zu diesem kritischen Zeitpunkt erreichte die AfD-Kampagne ihren Höhepunkt. Im März 2018 veröffentlichte die AfD eine Presseerklärung, in der sie die Einrichtung als "gewaltigen Fehlschlag“ und als "Halal-Kindergarten“ bezeichnete.

AfD-Vertreter störten zudem eine öffentliche Sitzung des Stadtrats und beschuldigten den Bürgermeister, durch die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung das Wohl deutscher Kinder zu gefährden. Mehrere Ratsherren verließen aus Protest gegen die Anschuldigungen den Saal. Ein Augenzeuge berichtete später, dass "(auf der Sitzung) offen rechte Ideologie vertreten wurde“. 

Die Kita war ein willkommenes Reizthema für den neu gegründeten AfD-Kreisverband. Der Verband wetterte gegen Halal-Essen und bediente gesellschaftliche Ängste vor einer kulturellen Invasion.

Aggressive AFD-Kampagne stärkt die Entschlossenheit

Die von mir befragten Menschen aus dem gesamten politischen und religiösen Spektrum stimmten jedoch darin überein, dass die aggressive AfD-Kampagne die Menschen erst recht dazu veranlasste, politische Entschlossenheit zu zeigen: "Von einer Randgruppe dürfen wir uns nicht die Belange der Zivilgesellschaft diktieren lassen.“ Der amtierende CDU-geführte Stadtrat erkannte ebenfalls die Vorteile einer öffentlichen Unterstützung der Kindertagesstätte – nicht zuletzt für den Ruf Gifhorns als liberaler Stadt. 

Mobilisierungskampagnen in der Moscheegemeinde und den lokalen Kirchengemeinden führten schließlich dazu, dass alle freien Plätze besetzt wurden und die Kita im August 2018 öffnen konnte. Allerdings setzte sich die Polarisierung weiter fort, zumal die Eröffnung zeitlich mit der sogenannten "Özil-Debatte“ zusammenfiel.



Damals wurden die Loyalität und der Patriotismus des deutschen Fußballnationalspielers Mesut Özil auch mit ihm auch aller Deutschen mit türkischem Hintergrund infrage gestellt. Das Personal der Kita, Ausschussmitglieder und Politiker wurden zur Zielscheibe persönlicher Drohungen. Gleichzeitig machte eine anonyme Flugblattkampagne mit aus dem Kontext gerissenen Äußerungen von Politikern Stimmung gegen die Kita.

An der Pressekonferenz zur Eröffnung der Kita nahmen mehr als 80 Personen teil, darunter Vertreter christlicher und muslimischer Gemeinden sowie Vertreter der Behörden und der Zivilgesellschaft. Die überregionale Presse sowie der NDR berichteten ausführlich. Der Verfassungsschutz war mit zwei verdeckten Ermittlern vertreten, um die Sicherheit zu gewährleisten.

Niedersachsens Ministerpräsident Stefan Weil (mit roter Krawatte) besucht den interreligiösen Kindergarten in Gifhorn (Foto: © Allerzeitung 2019)
Interessenspartner aus Politik und Wirtschaft betrachten die muslimisch-christliche Kita als potenzielles "Franchise“, als "Modellprojekt“ und "Start-up“ mit positiven Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohlergehen der Region. Die Initiative Gifhorns zur interreligiösen Bildung zeigt so die zunehmende Verzahnung von wirtschaftlichen Anliegen und Integrationspolitik. Kulturelle und religiöse Kompetenz der Berufstätigen sind für den privaten und den öffentlichen Sektor gleichermaßen von wachsendem Interesse. 



In den folgenden Monaten besuchten verschiedene hochrangige Politiker die Kita und zeigten damit ihre Unterstützung, so auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil und Kultusminister Grant Hendrik Tonne. Schon im ersten Jahr verzeichnete die Kita vollständig belegte Plätze, nicht zuletzt dank engagierter Mitarbeiterinnen und Eltern. Während die Aufmerksamkeit in den Medien abebbte, intensivierten sich die interreligiösen Verbindungen zwischen den drei Trägern.

Integration durch Zusammenarbeit vor Ort 

Die Verhandlungen über die Gründung der Kindertagesstätte waren flankiert von nationalen und internationalen Entwicklungen, wie dem Aufstieg des Rechtspopulismus, der Berichterstattung in den nationalen Medien, den politischen Veränderungen auf Landesebene und der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei.

Die Kindertagesstätte ist auch Ausdruck des politischen Willens in Deutschland, den Islam durch Partnerschaft und kooperativen Dialog zu integrieren. Sie ist gleichzeitig eine Plattform für lokale Gespräche und interreligiöse Dynamiken und zeugt somit von den komplexen Überschneidungen zwischen lokaler, nationaler und internationaler Politik. 

Voraussichtlich Anfang 2023 wird die Kita in eine der ältesten Villen Gifhorns umziehen, die hierzu saniert und vergrößert wurde. Das Angebot kann damit um weitere Kindergarten- und Krippengruppen erweitert werden und soll Platz für bis zu 115 Kinder bieten. Ermöglicht hat dies ein privater Investor, der das interreligiöse Konzept des Projekts unterstützt. Das partnerschaftliche Konzept der Einrichtung war entscheidend für die institutionelle Gleichbehandlung und Integration des Islam auf lokaler Ebene. So ist die Kita das gelungene Ergebnis eines belastbaren Netzwerks der Akteure. 

In Berlin werden derzeit Gespräche über eine jüdisch-muslimisch-christliche Kindertagesstätte geführt. In Osnabrück ist bereits eine jüdisch-muslimisch-christliche Grundschule eröffnet worden. Es wird sich zeigen, ob ähnliche Einrichtungen in weiteren Städten folgen, die das politische Leben bereichern und eine Vorbildfunktion für die Integration religiöser und ethnischer Minderheiten haben. 

Arndt-Walter Emmerich

© Qantara.de 2022

Arndt-Walter Emmerich ist Postdoktorand am Max Weber Institut für Soziologie an der Universität Heidelberg.