"Wir sind mitten in einer islamischen Reformation"
Scharia in einem säkularen Staat – ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Abdullahi Ahmed An-Na'im: Nicht unbedingt, denn die Frage ist doch, was wir darunter verstehen. Viele Menschen denken bei Scharia an Rechtsvorschriften, aber es handelt sich um das gesamte normative System des Islam, so wie es im Koran, der Sunna und den Hadithen dargelegt ist. Die Scharia enthält also auch Regelungen dazu, wie man betet oder fastet. So verstanden, ist es auch in einem säkularen Staat unmöglich, Muslimen zu verweigern, dass sie sich daran orientieren. Aber ein Staat, egal ob mehrheitlich muslimisch oder nicht, kann niemals die Inkraftsetzung der Scharia verfügen, denn es handelt sich nicht um kodifiziertes Recht. Es geht um Interpretationen, die Menschen aus eigener Überzeugung auswählen sollten.
Was ist dann Scharia in Ihren Augen?
An-Na'im: Die Scharia ist eine ethische Handlungsanweisung für den einzelnen Muslim. Staat und Religion sollten klar voneinander getrennt sein. Für mich als Muslim muss der Staat säkular sein, damit ich meinen Glauben ausÜberzeugung und freier Entscheidung praktizieren kann. Also aus einer islamischen Perspektive, das hat nichts mit europäischer Aufklärung zu tun. Es geht den Staat nichts an, ob ich Atheist oder Gläubiger bin.
Die Scharia enthält auch Rechtsvorschriften, trotzdem ist sie kein Gesetzbuch.
An-Na'im: Scharia ist ihrer Natur nach nichts, was man kodifizieren kann. Jede Kodifizierung würde die Komplexität einer langen Tradition mit einer Fülle sich widersprechender Meinungen auf eine simple Betrachtungsweisereduzieren. Diese würde dann nur noch die Meinung derjenigen wiedergeben, die gerade die Macht im Staat besitzen.
Zwar beharren Staaten von Marokko, Mauretanien bis nach Indonesien darauf, die Scharia umzusetzen, aber das ist nicht legitim. Denn staatliche Behörden wählen überall in einer höchst selektiven Weise Vorschriften aus, anstatt dass Muslime sich selbst entscheiden dürfen.
Wenn Staat und Religion klar zu trennen sind, welche Rolle kann dann Religion im öffentlichen Leben spielen?
An-Na'im: Ich unterscheide zwischen Staat und Politik. Der Staat hat nichts mit Religion zu tun, aber in der Politik ist sie sehr wohl relevant. So wie etwa die CDU in Deutschland ihre politischen Überzeugungen als christlich inspiriert versteht. Ob Sie nun die Scharia aus der Politik verbannen oder nicht, sie wird weiterhin die Richtschnur für das politische Handeln von Muslimen sein. Wer das verhindern will, entrechtet Muslime.
Warum hat das nichts mit dem europäischen Konzept eines säkularen Staates zu tun?
An-Na'im: Als Muslime vor 1.400 Jahren ihrenersten Staat in Medina gründeten, war dieser weder islamisch noch religiös. Dieser Staat war eine politische Institution, weder die Muslime selbst noch ihre Gegner beschrieben ihn als einen religiösen Staat. Das Konzept des islamischen Staates ist ein post-koloniales Konstrukt, das den europäischen Nationalstaat mit der Idee muslimischer Selbstbestimmung verbindet. Es geht eben nicht alles auf der Welt auf die Aufklärung und europäische Vorstellungen des Säkularen zurück!
Also hat das Säkulare verschiedene Gesichter?
An-Na'im: Nach französischen Maßstäben würde Deutschland nicht als säkular gelten. Großbritannien, wo die Königin gleichzeitig Oberhaupt der "Church of England" ist, würde noch nicht einmal nach deutschen Standards als säkularer Staat durchgehen und trotzdem bezeichnet man alle drei als säkulare Staaten. Dass der säkulare Staat aus der Aufklärung hervorgegangen sei, ist eine grobe Vereinfachung, die sich nicht in der europäischen Geschichte belegen lässt. Aber der Nationalstaat ist ein europäisches Konstrukt, das den Kolonisierten in Afrika und Asien aufgezwungen wurde. Nach ihrer Unabhängigkeit fanden sich Muslime im europäischen Nationalstaat wieder, der nicht ihrer Kultur und ihren Werten entsprach. Europäische Mächte haben ihn willkürlich aufoktroyiert und die tragischen Konsequenzen dessen sehen wir heute in Syrien und im Irak.
Es ist aber keine Folge des Kolonialismus, wenn in diesen Ländern bis heute der Islam Staatsreligion ist.
An-Na'im: Nein, das ist es nicht. Aber was bedeutet es, wenn der Islam Staatsreligion ist? Für viele Gesellschaften ist religiöse Identität ein zentrales Merkmal, aber es hat keine rechtlichen Konsequenzen. Davon mal abgesehen, dass es auch nicht-muslimische Länder mit einer Staatsreligion gibt wie etwa Irland. In Pakistan, Iran und Mauretanien ist der Islam Staatsreligion, aber es handelt sich um ganz unterschiedliche Staaten.
Es bedeutet doch, dass keine Trennung zwischen Staat und Religion existiert.
An-Na'im: In der ägyptischen Verfassung heißt es in Artikel 2, dass der Islam Staatsreligion ist. Aber in den übrigen Artikeln der Verfassung gibt es keinen Bezug auf diese Tatsache. Artikel 2 ist ohne Bedeutung, er ist Propaganda, eine Art, den Staat zu legitimieren, aber ohne legale Konsequenzen. Ägypten wird durch ein Militärregime regiert, das den gewählten Präsidenten der Muslimbrüder gestürzt hat. Seine Anhänger sind im Gefängnis und werden wegen politischer Verbrechen exekutiert. Das Militär hat den Staat übernommen, obwohl Artikel 2 immer noch in der Verfassung steht. Es ist eine starke Allianz zwischen dem Staat und den religiösen Institutionen entstanden, die vor allem den Machthabern dient.
Eine Ihrer Forderungen lautet, Muslime sollten sich selbst vom Kolonialismus befreien. Was verstehen Sie darunter?
An-Na'im: Die Herzen und Hirne von Muslimen sind noch immer von europäischer Erkenntnislehre und Philosophie, von europäischen Konzepten für die Verwaltung eines States besetzt, obwohl sie seit Dekaden nominell unabhängig sind. Kolonialismus ist eben nicht nur eine militärische Besetzung, er ist ein Geisteszustand für Kolonisierte wie für die Kolonisatoren. Wer besetzt wurde, trägt selbst dazu bei, sich den kolonialen und neokolonialen Prioritäten zu unterwerfen. Ich muss als Muslim meinen eigenen Geist, mein Herz und meine Seele befreien, um wieder zu einer eigenständigen Person zu werden. Damit lehne ich aber nicht die Einflüsse europäischer oder amerikanischer Kultur ab.
Was bedeutet das etwa für die Debatte um einen säkularen Staat?
An-Na'im: Solange wir europäische Modelle imitieren, sind wir nicht wirklich vom Kolonialismus befreit. Wir müssen unsere Politikmodelle in der eigenen Geschichte verwurzeln, indem wir versuchen, die Bedeutung islamischer Geschichte in verschiedenen Epochen und Regionen zu entschlüsseln. Ich will nicht das deutsche, französische oder britische Modell imitieren. Ich formuliere meine politische Doktrin in Begrifflichkeiten, die jenseits einer europäischen kolonialen Begrenzung liegen.
"Towards an Islamic Reformation" lautet der Titel eines Ihrer Bücher. Heute ist es fast schon Mode für islamische Intellektuelle, nach einer Reform des Islam zu rufen. Sie verbinden aber durchaus Unterschiedliches damit.
An-Na'im: Deshalb ist es wichtig herauszuarbeiten, was man darunter versteht. Die europäische Reformation ist viel komplexer als nur die Geschichte von dem Mönch, der einigeForderungen an eine Kirchentür nagelt. Transformative Bewegungen brauchen eine lange Zeit und sie sind Teil eines Konsenses, der über mehrere Generationen entsteht. Die Menschen, die damals lebten, wussten nicht, dass sie Teil der christlichen Reformation sind. Ebenso wenig diejenigen, die die Französische Revolution erlebten. Erst rückblickend kann man diese Prozesse erkennen.
Was bedeutet das für die Erneuerung des Islam?
An-Na'im: Bei der muslimischen Reformation handelt es sich um einen ähnlichen Prozess. Die rund 1,6 Milliarden Muslime leben eine große Bandbreite von Glaubensrichtungen. Es ist nicht wie bei einem Auto, wo man den Schlüssel in die Zündung steckt und dann startet die Reform. Vielmehr sind zahlreiche Ideen im Umlauf, die auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen. Manche Vertreter von Reformansätzen müssen das mit ihrem Leben bezahlen, das ist leider häufig so in der Geschichte.
Heißt das, wir sind mitten in einer islamischen Reformation?
An-Na'im: Ja, wir reden darüber und deshalb sind wir mittendrin. Denn Muslime stören sich zunehmend an manchen Aspekten eines traditionellen Verständnisses von Islam wie fehlenden Frauenrechten oder mangelnder religiöser Freiheit. Als ich vor mehr als 40 Jahren an der Universität Khartum studierte, fühlte ich mich zu demokratischen Prinzipien und Menschenrechten hingezogen, aber das Verständnis von Scharia in unseren Lehrveranstaltungen stand dem entgegen. Die Tatsache, dass ich einen Bedarf an Reform verspürte, gehört schon zu diesem Prozess. Wir sind mitten in einem transformativen Prozess, den wir Reformation nennen.
Das Interview führte Claudia Mende.
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