Die ausgeblendete Vergangenheit
Sie wurden 1974 in Oran in Algerien geboren und zogen zwei Jahre darauf mit Ihren Eltern nach Frankreich. Wann haben Sie begonnen, sich mit Ihrer algerischen Familiengeschichte zu beschäftigen? Und welche Rolle spielte dabei der Bürgerkrieg der 1990er Jahre?
Dalila Dalléas Bouzar: In unserer Familie war Politik kein Thema. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe mich zum ersten Mal intensiv mit der Geschichte Algeriens befasst, als der Bürgerkrieg längst vorbei war. Auslöser war der Dokumentarfilm "Algerie(s)" von Patrice Barrat, Malek Bensmail und Thierry Leclerc über den algerischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre.Diesen Film sah ich zum ersten Mal im Herbst 2010, als ich schon in Berlin lebte. Er wirkte auf mich wie ein Elektroschock. Ich hatte in den 1990er Jahren – wie die meisten Bürger Algeriens – die Nachrichten nur in den Medien verfolgt. Aber ich hatte nicht bewusst mitbekommen, dass dieser Terror, diese Massaker tausende und abertausende von Menschen betrafen.
Das kann man sich kaum vorstellen…
Bouzar: Ja. Ich war fassungslos über mich selbst und habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass ich das alles nicht bewusst wahrgenommen habe, obwohl ich zu Beginn des Bürgerkrieges schon achtzehn Jahre alt war? Was habe ich da verdrängt?
Dem wollte ich auf den Grund gehen. Dabei wurde mir auch schlagartig klar, dass mein Vater 1962, also zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Algeriens, zwanzig Jahre alt war. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage: Was hat er während des Krieges getan? Warum sind wir damals nach Frankreich gegangen?
Sie haben Ihren Vater im Rahmen Ihres Kunstprojektes "Algerien, Jahr Null" interviewt. Was hat er Ihnen erzählt?
Bouzar: Mein Vater wurde Anfang der 1960er Jahre, kurz vor dem Ende des Unabhängigkeitskrieges von der französischen Armee zwangsrekrutiert. Ich wollte von ihm wissen: Auf wessen Seite warst Du? Hast du dich auf Seiten Frankreichs gesehen oder Algeriens? Was ist der Unterschied zwischen Dir und einem Harki? (Die Harkis waren im Algerienkrieg Einheimische, die von Frankreich im Kampf gegen die FLN rekrutiert wurden/Anmerkung der Redaktion) An diesem Punkt war mein Vater empfindlich: Nein, er sei kein Harki und kein Verräter gewesen. Man habe ihn gezwungen, zur Armee zu gehen. Ich habe ihn gefragt: "Hast Du Algerier getötet?" Er verneinte das. Irgendwann meinte er: "Es reicht jetzt, warum fragst Du mich das alles?"
Welche Schlüsse haben Sie daraus für sich gezogen?
Bouzar: Ich habe begriffen, dass die Dinge nicht so einfach waren, wie ich gedacht hatte. Wenn heute von offizieller Seite behauptet wird, dass das ganze algerische Volk hinter der Befreiungsfront FLN stand, dann ist das nicht die Wahrheit. Tatsächlich waren längst nicht alle im Maquis.
Diese Komplexität wollte ich besser verstehen, aber das ganze Thema ist in Algerien immer noch ein großes Tabu. Man gibt ungern zu, dass viele sich opportunistisch verhalten und ihr Mäntelchen nach dem Wind gedreht haben und dass die Geschichte nicht so Schwarz-Weiß abgelaufen ist, wie man sie gern darstellen will.
Welche Beziehung sehen Sie zwischen dem Befreiungskrieg und dem Terror der 1990er Jahre?
Bouzar: Der Bürgerkrieg der 1990er Jahre ist für mich eine direkte Folge des Umgangs mit der Gewalt des Unabhängigkeitskrieges. Die Tatsache, dass man nicht offen über die inneralgerische Gewalt sprechen konnte, bedeutet, dass viele Menschen nicht trauern konnten. Das führte dazu, dass in der algerischen Gesellschaft ein latentes Gewaltpotential schwelte.
Wie sind die Ausstellung und das Buch "Algerien, Jahr Null" entstanden? Und wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen?
Bouzar: Alles hat mit diesem Dokumentarfilm angefangen, "Algérie(s)". Der Film machte mir klar, dass es vom algerischen Bürgerkrieg im Ausland kaum Bilder gab. Ich fand das schockierend. Wir sind in einer Gesellschaft, die permanent von Bildern überflutet wird, aber hier geschehen die schlimmsten Verbrechen und doch gibt es keine Bilder.
Ich habe also erst einmal nach Bildern über den Krieg geforscht, in den Medien, die für mich zugänglich waren. Es ging mir auch darum, einen Teil meiner persönlichen Geschichte zu konstruieren. Es gab eine Riesenlücke.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder ausgesucht?
Bouzar: Ich habe die Fotos nicht nach historischen, sondern nach ästhetischen und emotionalen Kriterien ausgewählt. Die Bilder, die mich künstlerisch interessierten, habe ich partiell auf Papier abgezeichnet und mit Farben, Konturen und verschiedenen Maltechniken verändert. Parallel habe ich geschrieben, und ich habe auch andere Autoren gebeten, ebenfalls etwas zu schreiben, denn ich wollte über die Erinnerung sprechen, aber im Austausch mit anderen.
Viele Ihrer Bilder wirken fließend, transparent, fragmentiert – ein starker Kontrast zu dem heroischen Duktus, mit dem die algerische Befreiungsgeschichte oft dargestellt wird. Wie haben die Besucher in Algerien auf Ihre Ausstellung reagiert? Waren sie bereit, sich darauf einzulassen?
Bouzar: Ich hatte Furcht, dass man mir das Recht absprechen würde, an dem Thema zu arbeiten, weil ich als Algerierin nicht in Algerien lebe und weil ich das alles nicht persönlich erlebt habe. Doch die meisten Leute fanden es gut, dass sich jemand künstlerisch mit dem Thema befasst. Das ist ja immer noch sehr selten. Und die Leute haben auch wertgeschätzt, dass ich mich um politische Neutralität bemühe.
In Ihrem Buch sprechen Sie davon, das Gedächtnis zu entschleiern. Gibt es die eine Realität hinter dem Schleier? Suchen Sie nach der Wahrheit oder ist das eher ein Prozess für Sie?
Bouzar: Ja, es gibt einen Schleier, den ich lüften möchte. Denn eines ist doch klar: Algerien ist formell eine Demokratie, aber in Wirklichkeit ist es ein autoritärer Staat, der sehr viel versteckt und verheimlicht. Vor allem verheimlicht man den Algeriern ihre eigene Geschichte. Das fängt schon in der Schule an. Es gibt aber Fakten, die sind eindeutig und nicht widerlegbar.
Seit 2009 leben Sie in Berlin. Wie hat die Interaktion mit dieser Stadt und ihren Bewohnern Ihr Leben und Ihre künstlerische Arbeit geprägt?
Bouzar: Sehr stark. 1995 war ich zum ersten Mal in Berlin, noch als Studentin, bei einem Workshop im Haus der Wannseekonferenz. Damals entschied ich mich dazu, dass ich nicht Biologin werden wollte, sondern bildende Künstlerin. Seitdem war mir klar, dass ich irgendwann länger in Berlin leben wollte. Seit 2009 bin ich nun wieder hier, und ich glaube, mein Algerien-Projekt wäre ohne Berlin nicht entstanden.
Wie die Deutschen sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, hat mich tief beeindruckt. Ich habe mir sehr bewusst die Ausstellung "Topografie des Terrors" angesehen. Ich fand auch die "Stolpersteine" sehr gut und ich habe angefangen, deutsche Künstler kennenzulernen, wie Jochen Gerz, der sich ebenfalls mit Kunst und Erinnerung beschäftigt. Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft auch in Algerien solche kreativen Ansätze zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entwickeln. Im Moment gibt der politische Kontext das nicht her. Aber allein darüber nachzudenken, ist für mich schon ein Schritt vorwärts.
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de