Tanger - vom Ende einer kosmopolitischen Ära
Herr Haller, inwiefern hat sich Tanger in den zwei Jahren seit dem Erscheinen ihres Buches verändert?
Dieter Haller: Man kann zwei Ebenen unterscheiden, auf denen sich ein Wandel vollzogen hat – zum einen kulturell und zum anderen politisch. Einerseits finde ich, dass konservative Einstellungen mittlerweile viel prominenter geworden sind. Als ich vor zwei Jahren in Tanger war, gab es nicht viele schwarzgekleidete, vollverschleierte Frauen auf der Straße. Jetzt sieht man sie überall. Schon damals hegten ja viele Menschen den Wunsch, ein konservativeres Leben zu führen. Offensichtlich wurde das nun in die Tat umgesetzt.
Andererseits zeigt sich der Wandel auch inpunkto Architektur und Städtebau, der Hafengegend und an den Stränden. Mittlerweile sind Attraktionen wie die "Tanja Marina Bay" und die Corniche entstanden. Ich denke, dass die Stadt langsam aber sicher einer Teilung entgegensteuert. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass die Nachtclubs, die früher ganz selbstverständlich zum Stadtbild gehörten, mittlerweile an eher versteckten Orten zu finden sind - weit weg von den Augen der Fußgänger.
Und es wird viel investiert, um die Stadt aufzuhübschen. Auch die Einwohner sind darauf bedacht, ihre Viertel sauber und in Stand zu halten, oder sie durch Begrünung und andere Maßnahmen zu verschönern. Das alles erinnert mich an Italien in den 1960er Jahren. Damals wurde die Gesellschaft dort konsumorientierter, gleichzeitig aber auch konservativer.
Warum haben Sie sich gerade Tanger als Gegenstand ihrer Studie ausgesucht? Wieso ist Ihre Wahl nicht auf eine andere Stadt in Marokko, oder auch in einem anderen Land des Maghreb gefallen?
Haller: Zum einen hatte es fachliche Gründe. Ich hatte Anfang der 1980er Jahre bereits eine Studie in Spanien gemacht und dann in Gibraltar geforscht. Insbesondere dort sprachen alle über die Grenze, Tanger und Marokko. Einerseits fand ich, dass es wichtig wäre, mehr über diese Stadt und die Beziehungen zu erfahren, die beide Seiten auf verschiedensten Ebenen verbinden. Andererseits lernte ich Tanger durch die Werke der europäischen Schriftsteller als Mythos kennen. Auch das hat mich angetrieben, die Stadt genauer zu erforschen.
In Gibraltar leben Menschen verschiedenster Religionen eng zusammen. In meinen Gesprächen dort erzählten sie mir immer wieder, dass auch Tanger früher für das Zusammenleben von Muslimen, Juden und Christen bekannt war. Und für mich war das sehr bedeutsam, denn ich habe noch nie an so etwas wie eine homogene Identität und die fein säuberliche Trennung der Religionen geglaubt.
Als Anthropologe sind mir nicht die ideologischen Diskurse wichtig. Was zählt, ist die alltägliche Praxis der Menschen und wie sie leben.
In einem anderen Interview sprachen Sie von einer "Sünde", die Sie im Zusammenhang mit der Nostalgie begangen hätten – also jener verklärenden Sehnsucht, die das Bild der Europäer von Tanger prägt und so anziehend für sie macht. Können Sie genauer erklären, was Sie damit meinen?
Haller: Diese nostalgische Sehnsucht hängt mit der Faszination für das Zusammenleben der Kulturen und Religionen zusammen. Als mir in Gibraltar erzählt wurde, dass auch Tanger einst eine Stadt der Koexistenz war, wurde diese Sehnsucht in mir angesprochen. Städte mit einer solchen Geschichte haben eine große Anziehungskraft auf mich. Insofern war es für mich schwierig, mich während meiner Forschung von der Geschichte und dem Blick der Europäer auf die Stadt freizumachen.
In Ihrem Buch lassen Sie diejenigen zu Wort kommen, deren Stimme und Geschichte meistens ignoriert werden: die einfachen Menschen. Was steckt hinter dieser Entscheidung?
Haller: Zu Beginn meiner Recherchen für die Studie über Tanger stieß ich als Erstes auf die Texte amerikanischer und europäischer Autoren über die Stadt, auf Analysen von marokkanischen Intellektuellen sowie Informationen von staatlicher Seite, in denen die Projekte zur Stadtentwicklung dargestellt werden. Natürlich sind solche Texte für mich als Anthropologe wichtig, aber man darf sich nicht zu sehr durch das offizielle Narrativ und die intellektuellen Diskurse beeinflussen lassen. Im Gegenteil, man muss herausfinden, was die einfachen Menschen auf der Straße denken und wie sie die Welt um sich herum sehen.
Es stimmt natürlich, dass die Stadtentwicklungsprojekte Arbeitsplätze für viele Menschen geschaffen haben, aber was macht denn der einfache Seemann oder was machen die Straßenhändler, die Schmuggelware verkaufen? Wie leben sie? Mich mit den Menschen zu treffen und Gespräche zu führen, ist Teil meiner Verpflichtung als Anthropologe, Feldforschung zu betreiben. Mich interessieren nicht die Diskurse, mich interessiert die Praxis.
In der Einleitung zu meinem Buch habe ich angemerkt, dass ich - so gut es ging - versucht habe, Gespräche mit Intellektuellen zu vermeiden. Das über die ganze Studie durchzuhalten, war manchmal nicht ganz einfach: Akademiker und Intellektuelle haben Antworten auf alles, ich hingegen habe nur Fragen.
In Ihrer Studie schreiben Sie, dass Tanger einen spürbaren Transformationsprozess erlebt, der sich im Konflikt zwischen den Einheimischen und der später zugezogenen Bevölkerung zeigt, besonders seit die jüdischen und europäischen Einwohner die Stadt verlassen haben. Wie entstand dieser Konflikt Ihrer Ansicht nach?
Haller: Nach der Unabhängigkeit Marokkos war Tanger eine kleine Stadt mit einer begrenzten Einwohnerzahl. Die jüdischen und christlichen Bewohner hatten die Stadt verlassen und zurück blieb nur noch die lokale marokkanische Bevölkerung. Später verließen auch viele der marokkanischen Einwohner Tanger in Richtung Südamerika und Frankreich.
Dann kamen immer mehr Menschen aus dem Süden und Frankreich, die in die Stadt zogen, weil sie ihnen gefiel. Die ursprüngliche Bevölkerung der Stadt war ja nicht französisch-, sondern spanischsprachig. Aber aus der einstigen Mehrheit wurde schnell eine Minderheit, die auch politisch keinen großen Einfluss mehr auf ihre Stadt hatte.
Es ist auch bekannt, dass entsprechend dem Kurs unter Hassan II. und Mohammed VI. Tangers hohe Verwaltungsbeamte aus anderen Regionen kamen, während die Beamten aus Tanger selbst nach Meknès geschickt wurden. Dahinter stand natürlich das übergeordnete Ziel, einen marokkanischen Staat zu errichten. Das hatte den Effekt, dass die ursprüngliche Bevölkerung Tangers nicht nur demografisch, sondern auch politisch eine Minderheit wurde.
Darüber hinaus gab es noch einen weiteren Faktor: der Bevölkerungszuzug aus dem landwirtschaftlich geprägten Hinterland. Die Einwohner Tangers waren darüber nicht unbedingt erfreut, da sich die Bauern nicht an die Begebenheiten des Lebens in der Stadt anzupassen wussten. Stattdessen brachten sie ihre Sitten und ihr Vieh mit. Das führte nicht nur zu einem Wandel in der städtebaulichen Struktur Tangers, auch das Leben in der Stadt veränderte sich.
Während der "bleiernen Jahre" durchlebte Tanger außerdem eine Phase der relativen Marginalisierung, in der einzig der Schmuggel einen ökonomischen Ausweg bot. Dadurch fühlten sich viele Menschen wie Fremde in ihrer eigenen Stadt.
Für Ihre Studie haben Sie mit vielen Menschen gesprochen, die zur Gemeinde der ursprünglichen Bewohner Tangers gehören. Sie bringen vielfach Unmut über die Politik der "Marokkanisierung" zum Ausdruck, weil sie das kosmopolitische Erbe der Stadt zunichte gemacht habe und betonen, dass Tanger keine kolonialisierte, sondern eine internationale Stadt gewesen sei. Wie denken sie über diesen Standpunkt?
Haller: Im Falle der muslimischen Arbeiterschicht geht diese Haltung darauf zurück, dass ihr Lebensstandard zu Zeiten der internationalen Zone besser war, als er es heute ist. Sie hatten zum Beispiel die Möglichkeit, sich in jüdischen oder italienischen Krankenhäusern behandeln zu lassen, oder ihre Kinder auf italienische Schulen zu schicken. Heute hingegen beschweren sich die Menschen über das Niveau der Bildung und die mangelnde Qualität im Gesundheitswesen in der Stadt. Aber natürlich waren die Verhältnisse auch in der Vergangenheit nicht ideal: Muslime hatten deutlich weniger Möglichkeiten als die jüdische und die europäische Bevölkerung.
Sie hatten während Ihrer Forschungen ein spirituelles Erlebnis im Rahmen einer Zeremonie in der "Zawiya-Hamdouchiya", einer Art Schrein. Können Sie uns ein bisschen mehr darüber erzählen, insbesondere angesichts dessen, dass Sie als Deutscher aus einer säkularen Kultur kommen?
Haller: Ich habe die Zeremonie in der "Zawiya-Hamdouchiya" durch meinen Dolmetscher kennengelernt, der mir sagte, dort sei es "besser als in der Disko". Was ich erlebte, war eine ganz wichtige kulturelle Erfahrung: die anwesenden Frauen lassen ihren Gefühlen freien Lauf und alle führen eine Art Tanz auf. Das war jedenfalls mein erster Eindruck. Bald habe ich dort dann sowohl die große Bedeutung der spirituellen Dimension der "Zawiya" als auch die Welt der Dschinnen erkannt, der ich zuerst gar keine Beachtung geschenkt hatte. Seit fünf Jahren nehme ich, wenn ich in Tanger bin, als zugeneigter Freund an der Welt der Hamdouchi teil.
Wie beurteilen Sie als Deutscher, der mehr als ein Jahr in Tanger gelebt hat, die Lebensqualität in Marokko in Hinblick auf persönliche Freiheiten, Menschenrechte und die Lage der Frau?
Dieter Haller: Das ist eine schwierige Frage, denn es gibt diesbezüglich zwei gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite steigt die Zahl derjenigen stetig, die über persönliche Freiheiten sprechen und sie einfordern, zum Beispiel in den Liedern jüngerer Künstler und Künstlerinnen, auf den Social-Media-Plattformen aber auch über andere Kanäle. Sie formulieren den Wunsch nach mehr Emanzipation als je zuvor.
Auf der anderen Seite steht eine Gesellschaft, die immer konservativer wird und ein König, der gleichzeitig Moderne und Tradition preist. Es ist ein sehr komplexes Thema. In Marokko gibt es sowohl Kämpfer für Freiheiten und Frauenrechte, als auch konservative Kräfte. Dazu kommt noch die offizielle Linie des Staates. Tanger war zum Beispiel kosmopolitisch, hat sich aber rasant zu einer konservativen Stadt entwickelt. Darin unterscheidet sie sich deutlich von anderen marokkanischen Städten. Im Vergleich war der Wandel auf dieser Ebene in Tanger sehr tiefgreifend. Früher genossen die Frauen hier mehr Freiheiten und auch Schwule und Lesben hatten mehr Freiraum, um sich auszudrücken.
Dieser Wandel geht aber nicht nur auf den wahhabitischen Islam aus Saudi-Arabien zurück, der die Köpfe der Menschen infiltriert und ihren Lebensstil verändert hat. Es hängt auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Transformation von einer traditionellen zu einer konsumorientierten Gesellschaft zusammen. All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass Tanger konservativer geworden ist.
In meinen Gesprächen mit alteingesessenen Bewohnern Tangers vertraten viele von ihnen den Standpunkt, dass die Behauptung, in Tanger habe es eine historische Episode der Freiheit gegeben, in dieser Generalität nur eine leere Floskel ist. Insofern denke ich, dass die Freiheiten auch in der kosmopolitischen Phase Tangers auf bestimmte Gesellschaftsschichten beschränkt waren, unter denen die jüdische und die europäische Bevölkerung hervorstachen.
Karima Ahdad
© Qantara.de 2019
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne
Dieter Haller: "Tanger. Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie", Transcript Verlag, 356 Seiten, ISBN: 978-3-8376-3338-2