Die Fremdheit des Korans durchbrechen
Herr Professor Karimi, lassen Sie mich unser Gespräch mit Goethe beginnen. "Wenn Islam Ergebenheit in Gottes Willen heißt, / In Islam leben und sterben wir alle…", schrieb er im "West-östlichen Divan". Stimmen Sie ihm zu?
Ahmad Milad Karimi: Voll und ganz. Ich lebe, was Goethe dichtete. Diese Hingabe zu Gott befreit mich als Mensch.
Es war Johann Gottfried Herder, der Goethe das Studium des Korans nahelegte. War die Offenheit der westlichen Geisteswelt gegenüber dem Islam damals größer als heute?
Karimi: Das ist eigentümlich. Unsere Zeit, die geprägt ist von Informationen, in der wir durch Bibliotheken und das Internet Zugang haben zu allen Schriften, vermittelt den Eindruck, dass wir immer weniger wissen. Wenn man sich die Offenheit vergegenwärtigt, mit der Goethe, der in seiner Tradition stark verwurzelt war – von Herder ganz abzusehen –, sich dem Anderen, dem Fremden zuwandte, dann vermisse ich diese Offenheit heute.
Dabei erfolgte Goethes Zuwendung nicht unkritisch. Er fühlte sich von der koranischen Stimme zunächst geradezu angewidert und konnte damit kaum etwas anfangen. Aber er gab nicht auf. Er forschte nach und entwickelte auch sich selbst weiter, indem er sogar Arabisch zu lernen begann. Mit zitternder Hand schrieb er in arabischer Schrift Koran-Verse. Das ist sehr bewegend, unabhängig davon, dass es sich dabei um den Islam handelt.
Für Goethe war der Koran ein "Meisterstück der Dichtkunst", und in diesem Bewusstsein fertigte auch Friedrich Rückert seine Übersetzung an. Wie erklären Sie es sich, dass kein deutschsprachiger Dichter nach ihm sich vom Koran zu einer Übersetzung inspirieren ließ?
Karimi: Rückert war ein Phänomen. Derartige Dichter deutschsprachiger Prägung, die auch noch Arabisch können, gibt es kaum noch. Um eine Koran-Übersetzung anfertigen zu können, muss man vielfältig bewandert sein. Rückert war das. Er war auch mit anderen Sprachen vertraut. Vielleicht hätte Rainer Maria Rilke ihm folgen können, wenn er der arabischen Sprache mächtig gewesen wäre.
Als Sie Ihre Koran-Übersetzung herausbrachten, lagen einige deutsche Übersetzungen vor, die aber eher wissenschaftlichen Charakter hatten und sprachlich steif waren. War das der Grund dafür, weshalb Sie eine Neuübersetzung vornahmen?
Karimi: Auf philologische Präzision wollte ich bei meiner Übersetzung auch nicht verzichten. Eine Übersetzung allerdings, die nur von der Idee getragen wird, eine Botschaft in eine andere Sprache zu übertragen, ist verfehlt. Man muss sich in die Stimmung der anderen Sprache hineinversetzen. Der Koran stellt eine eigentümliche literarische Besonderheit dar, vergleichbar mit Homers "Ilias" oder der "Odyssee". Von diesen Schriften kann man auch nur dann eine gelungene Übersetzung anfertigen, wenn man berücksichtigt, dass es sich um Reimprosa handelt, die Rhythmus und Klang hat. Ich habe hörend übersetzt und mir so lange arabische Koran-Rezitationen angehört, bis ich mir den Text so zu eigen gemacht hatte, dass ich seinen Klang in deutscher Sprache wiedergeben konnte.
In Ihrem Buch "Hingabe" zitieren Sie neben islamischen Gelehrten vor allem Philosophen aus der abendländischen Tradition. Sind die Fragen, die der Koran aufwirft, dieselben, die auch die abendländische Philosophie umtrieben?
Karimi: Die Fragen bleiben dieselben, egal welcher Weltanschauung wir angehören. Der Koran handelt vom Menschen, und der Mensch ist immer eine Frage. Ich lasse mich nicht von Namen, Nationalitäten oder Glaubenszugehörigkeiten verblenden. Es geht mir nur um die Sache selbst. Die islamische Tradition im Mittelalter ist mir da ein Vorbild. Al-Kindi und Ibn-Ruschd lasen Aristoteles nicht, weil er ein gläubiger Muslim war, sondern weil er unglaublich reizvolle Einsichten hatte. Al-Maturidi, der große schulbildende Theologe des Islams, stellte genau wie später Leibniz die Frage, warum es die Schöpfung gebe und nicht keine Schöpfung.
Dem Islam wird häufig seine Zugehörigkeit zum Orient und damit seine Fremdheit vorgeworfen. Tatsächlich ist der Koran im Orient entstanden wie auch die Grundschriften des Judentums und des Christentums. Was macht es so schwierig, den Islam in die klassische monotheistische Tradition hereinzuholen?
Karimi: Die fehlende Bildung. Wenn ich mich mit jüdischen oder christlichen Kollegen austausche, die sowohl mit ihrer Tradition als auch dem Islam vertraut sind, besteht keine Fremdheit. Da wird die fruchtbare textuelle Beziehung zwischen dem Koran und den anderen heiligen Schriften nicht infrage gestellt. Es ist klar, dass alle miteinander eine Tradition bilden, ob man die nun die klassische monotheistische Tradition oder das abrahamitische Erbe nennt.
Es liegt noch viel Arbeit vor uns, diese Vermittlungen zu leisten. Denn es ist auch Aufgabe der Muslime in Europa – und das sage ich durchaus selbstkritisch –, die Fremdheit des Korans und der islamischen Traditionen zu durchbrechen und zu zeigen, dass es uns genauso wie den anderen Traditionen um Freiheit, Menschenwürde und Bewahrung der Schöpfung geht. Der Koran liefert keine Alternativen zur Menschlichkeit.
Ist es schmerzhaft für Sie, wenn Terroristen sich auf den Koran berufen und im Namen des Islams Verbrechen begehen?
Karimi: Es ist unheimlich schmerzhaft, meine Religion, meinen Gott, meinen Propheten und meine religiöse Tradition so verunglimpft zu sehen. Aber noch mehr schmerzt mich, dass die Selbstprädikation der Terroristen so schnell übernommen wird. Religiöse Schriften sind fragil. Sie können sich nicht verteidigen. Jeder kann sich auf sie berufen. Auch im Namen des Christentums wurde viel Blut vergossen. Das heißt aber nicht, dass sich das Christentum dafür schuldig fühlen sollte.
Der Koran ist kein Subjekt. Subjekt sind die Menschen, die ihr Verständnis dieser Religion vorlegen. Und wenn Terroristen meinen, ihren Terror islamisch zu begründen, dann darf man ihnen nicht glauben. Ich will aber mein Leben auch nicht mit Rechtfertigungen verbringen und ständig sagen müssen, was nicht der Fall ist. Stattdessen widme ich mich lieber der Aufgabe, ein authentisches Verständnis vom Islam zu verbreiten.
Es sind aber nicht nur Terroristen, die den Koran nach ihrem Gutdünken deuten, sondern auch die Protagonisten islamophober Strömungen im Westen. Diese betreiben ebenfalls ihre eigene Exegese und behaupten damit die Fremdheit und Gefährlichkeit des Islams…
Karimi: Auch bei diesen Protagonisten wird leider ihre Kompetenz nicht infrage gestellt. Der Koran ist kein Werkzeugkasten, aus dem man nach Belieben Werkzeuge entnehmen kann, um damit zu arbeiten. Man sollte niemandem trauen, der einfach so aus dem Koran zitiert, egal ob er Muslim ist oder nicht. Es bedarf einer behutsamen Auseinandersetzung, einer bestimmten Hermeneutik, einer theologischen Positionierung, einem Verständnis für die Gesamtkomposition, auf die die einzelnen Verse sich kontextuell beziehen.
Religiöse Kritik begrüße ich. Sie fordert uns heraus. Daran können wir wachsen. Diese religiöse Musikalität ist wichtig für ein gelingendes Zusammenleben. Ich streite auch gerne darüber, ob mein Verständnis des Islams gelingt. Aber manchmal habe ich den Eindruck, es wird nicht mein Verständnis vom Islam kritisiert, sondern man legt mir nahe, meine Religion aufzugeben. Das lasse ich mir in meiner Freiheit ungern sagen.
Gefordert wird eine größere Zahl gebildeter Vertreter der islamischen Kultur in unserer Mitte, die auf Augenhöhe mit ihren westlichen Kollegen an den Universitäten und in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen könnten. Sie sind ein solcher Vertreter. Aber noch stehen Sie ziemlich allein da.
Karimi: Zum Glück gar nicht. Im Zuge der Etablierung der islamischen Theologie an den deutschen Universitäten haben sich mehrere Standorte herausgebildet, an denen Kollegen genau das leisten. Ich habe in Münster etwa 600 bis 800 Studierende. Das sind junge Menschen, die sich theologisch mit ihrer Religion befassen. Sie setzen sich mit Gottesbeweisen und deren Kritik aus islamischer Sicht auseinander, beschäftigen sich mit Kant, aber auch mit al-Aschari und dem Koran. Diese Generation kommt aus der Religionsgemeinschaft selbst. Sie wird die Zukunft prägen. Das stimmt mich optimistisch.
Vor welchen Herausforderungen steht die islamische Theologie heute?
Karimi: Die größte Herausforderung ist die nicht vorhandene Vermittlung des Islams. Ich ärgere mich immer, wenn über den Islam gesprochen wird, wie man es in der Pegida-Bewegung hört. Aber wir haben es noch nicht geschafft, unsere Religion so zu vermitteln, dass gewisse Behauptungen über sie von vornherein als absurd angesehen werden. Durch fortwährende Distanzierung gewinnen wir nichts. Gewinnen können wir nur, wenn es uns gelingt, selbst Debatten zu formulieren, Diskurse anzustoßen und uns in Verantwortung zu üben. Wir müssen uns als Muslime in die Pflicht nehmen, als Teil dieser Gesellschaft diese mitzugestalten.
Das Interview führte Ruth Renée Reif.
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Dr. Ahmad Milad Karimi wurde 1979 in Kabul geboren. Als er 13 Jahre alt war, flüchtete seine Familie vor dem Bürgerkrieg mit ihm aus Afghanistan. Von 2000 bis 2006 studierte Karimi Philosophie und Islamwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau und an der Delhi University in Indien. Seit dem Wintersemester 2012/2013 ist er Vertretungsprofessor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik am Zentrum für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.