Gegen den Strom
Dass Ihre Regiearbeit beim Sundance Film Festival in der Kategorie Weltkino als bester Film ausgezeichnet wurde und den Großen Preis der Jury gewann, ist ein großer Erfolg. Haben Sie damit gerechnet?
Tolga Karaçelik: Um ehrlich zu sein, kein bisschen. Zu Beginn unseres Aufenthaltes dort kam eine junge Frau, die sich um die Filmcrews kümmerte, zu mir und flüsterte mir ins Ohr: 'Ihr Beitrag ist mein Lieblingsfilm'. Doch ich dachte da nur, das ist einer der schönen Augenblicke, die man immer wieder bei Festivals erlebt. Zudem hatten wir auch keinen Verkaufsagenten. Diese Leute sorgen für den "buzz", wie die Amerikaner es nennen, also für das "Gerede". In Zeitschriften erscheinen Kritiken, es wird über den Film geredet. Somit erhöhen sie den Bekanntheitsgrad des Films und sorgen dafür, dass er auf Festivals Abnehmer findet.
Die Startbedingungen waren nicht unbedingt optimal, dennoch haben Sie diesen Preis gewonnen. Das erinnert etwas an die Fußballeuropameisterschaft 1992: Knapp zehn Tage vor der Meisterschaft wurde Jugoslawien disqualifiziert. Daraufhin brach die dänische Nationalmannschaft ihren Urlaub ab, nahm an der Meisterschaft teil und gewann.
Karaçelik: Das stimmt. Auch ich habe in letzter Sekunde am Festival teilgenommen. Ich habe im August 18 Tage lang gedreht. Dann kam der Schnitt. Ende Oktober, Anfang November habe ich mich fürs Festival beworben. Normalerweise muss man die Bewerbung bis September beim Sundance Film Festival eingereicht haben. Als ich dann erfuhr, dass ich angenommen wurde, war ich fix und fertig, auch weil mir zu diesem Zeitpunkt bewusst wurde, dass der Film bis Januar fertig sein musste. In dieser Zeit kam ich auch noch zwei Mal ins Krankenhaus, weil mir vom vielen Arbeiten schwarz vor Augen wurde und ich Infusionen bekam.
Worum geht es in Ihrem Film?
Karaçelik: Der Film spielt in dem Dorf Hasanlar, von dem auch die Rede in meinem ersten Film "Der Beamte am Schalter" ist. Ein Mann weiß nach dem Tod seiner Frau nicht, wie er mit seinen drei Kindern umgehen soll und schickt sie an unterschiedliche Orte. Eins der Kinder zur Tante nach Deutschland und die anderen beiden zu ihren Tanten nach Ankara. 20 bis 25 Jahre lang hatten die Kinder kaum Kontakt, weder untereinander noch zu ihrem Vater. Auf einen Anruf des Vaters hin kehren sie gemeinsam in ihr Dorf zurück. Dort werden sie mit einer völlig unerwarteten Situation konfrontiert und versuchen zu verstehen, wer sie sind und wer ihr Vater ist.
Welche Art von Genre ist der Film?
Karaçelik: Ich mag es, die Genres miteinander zu verweben. Das Kernthema des Films ist der Versuch dieser Menschen, die im Grunde Kinder geblieben sind, erwachsen zu werden. Ich wollte, dass der Film so erscheint, als wäre er von einem Sechsjährigen geschrieben und gedreht worden und als wären die Schauspieler sechs Jahre alt. Der Film nimmt dabei unterschiedliche Formen an: Mal trägt er schwarzen Humor, mal versprüht er eine Prise Absurdität, mal ist er ein Drama über eine dysfunktionale Familie, mal ein Roadmovie. Dabei habe ich immer versucht, die Naivität sowohl der Schauspieler als auch der Filmsprache beizubehalten.
Der Film ist eine absolute Independent-Produktion. Sie haben ihn letztlich ohne die Förderung des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus gedreht. Sie machten damals die Ablehnung des Ministeriums öffentlich und erklärten, man habe Ihren Film für nicht förderungswürdig befunden. Was glauben Sie, ist der Grund dafür, dass das Ministerium dieses Projekt, das später sogar einen Preis beim Sundance Film Festival gewonnen hat, nicht wollte?
Karaçelik: Ich denke, diese Frage sollten Sie dem Ministerium stellen. Ich mag es weder, mich als Opfer zu sehen noch mich zurückzuziehen.
Not macht bekanntlich erfinderisch. Ihr Film "Efeu", den Sie in 19 Tagen gedreht haben, hat viele Preise gewonnen, darunter die "Goldene Orange", den Preis des Filmfestivals von Antalya. Ihren neuen Film drehten Sie in 18 Tagen. Wie schaffen Sie es, in so kurzer Zeit Ihre Filme zu realisieren?
Karaçelik: Es ist uns gelungen, die Filme in dieser kurzen Zeit zu drehen, weil wir bei der Produktion recht kreativ waren. Zur Fertigstellung eines Films braucht man Kameras, Effekte, Farbkorrektur und vieles mehr. Ich habe die Lieferanten dieser Posten in die Produktion integriert, sie zu Co-Produzenten gemacht. Außerdem hat die Filmcrew weniger verlangt als sonst und das Projekt mit unterstützt. Außerdem hatten wir zuvor eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Im Endeffekt haben wir den Film alle gemeinsam realisiert, weshalb ich auch auf Instagram geschrieben hatte: "Das haben wir zusammen gemacht, jetzt gehört er uns allen."
Beim Filmfestival in Rotterdam fand die Europapremiere des Films statt. Wie war die Resonanz?
Karaçelik: Die Zuschauer von Rotterdam sind doch etwas sehr speziell. Wir haben uns zu Beginn gefühlt, als würden sie einer Operation am offenen Herzen beiwohnen. Aber es ist ein Film, dem man sich nicht allzu distanziert nähern sollte. Hätte er eine Gebrauchsanweisung, würde auf ihr stehen: "Bitte nicht zu ernst nehmen!". Doch mit der Zeit schmolz das Eis. Und als der Film zu Ende war, sagten viele Zuschauer, er habe ihnen letztlich wirklich sehr gefallen.
Das Interview führte Aydın Üstünel.
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