"Für Flüchtlinge ist Tunesien nur eine Durchgangsstation"
Was bedeutet für Sie der Begriff Flüchtling?
Anouar Brahem: Ein Flüchtling ist eine Person, die gezwungen ist, ihr Heim und ihr Land zu verlassen, weil sie sich dort bedroht fühlt und befürchten muss, dort wegen ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen oder religiösen Gruppe, oder wegen ihrer politischen Ansichten verfolgt zu werden. Flüchtlinge sind generell Personen, die vor Krieg fliehen.
Ist Flucht vor Armut für Sie weniger legitim als Flucht vor Krieg oder politischer Unterdrückung?
Brahem: Ein Flüchtling flieht vor einer drohenden Gefahr. Flüchtlinge, die vor Krieg oder Verfolgung fliehen, sind meist Menschen, die sich zur Flucht entschieden haben, weil sie unmittelbar und schwerwiegend in ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, selbst mit ihrem Leben, bedroht sind. Sie haben keine andere Wahl als zu fliehen. Man könnte meinen, dass Menschen die vor Armut fliehen, nicht dieses Gefühl der unmittelbaren Bedrohung hätten. Aber die Gründe und Bewertungen der Umstände können sehr komplex sein und sind nicht immer auf Anhieb ersichtlich.
Und Flucht vor ökologischen Problemen?
Brahem: Heute scheint es ein neues Verständnis von den Zusammenhängen zwischen Umwelt und Migration zu geben. Jedes Jahr werden Millionen zur Flucht gezwungen, durch Probleme, die einhergehen mit Dürren, Fluten, von steigenden Meeresspiegeln bedrohten Küstenstreifen und andere Phänomene.
Wann hört man auf, Flüchtling zu sein?
Brahem: Ein Mensch hört erst auf, ein Flüchtling zu sein, wenn er eine neue Nationalität angenommen hat und den effektiven Schutz dieses Landes genießt, oder wenn er freiwillig in sein Ursprungsland zurückkehrt, um sich dort dauerhaft niederzulassen.
Gibt es für Sie ein Recht auf Asyl?
Brahem: Dieses Recht existiert und es muss erhalten werden, weil es Millionen von Menschen ermöglicht, vor Krieg und Verfolgung zu fliehen.
Wenn ja: ist es bedingungslos, oder kann man es verwirken?
Brahem: Die Voraussetzungen werden in jedem Land durch eine Vielzahl von Vorschriften geregelt. In demokratischen Ländern beruhen diese Regelungen meist auf internationalen Abkommen und sind in der Regel vernünftig durchdacht. Aber in der Praxis sind die Verfahren sehr kompliziert. Diejenigen, die sich entscheiden ihr Land zu verlassen, leben oft in sehr prekären und fragilen Umständen. Aber selbst wenn Menschen nicht den in internationalen Konventionen oder nationalen Gesetzgebungen definierten Flüchtlingskriterien entsprechen, verdienen sie doch, dass man ihnen Unterstützung und Schutz bietet.
Glauben Sie, dass eine Gesellschaft begrenzt oder unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann? Falls begrenzt: worin bestehen diese Grenzen?
Brahem: Die Aufnahme von Flüchtlingen kann manchmal erhebliche Probleme in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Infrastruktur und Zugang zu Bildung verursachen. Im Libanon, einem Land mit 4,5 Millionen Einwohnern und 1,5 Millionen Flüchtlingen, ist das zahlenmäßige Verhältnis von Flüchtlingen pro Einwohner weltweit am höchsten.
Gibt es in Ihrem Land privilegierte Flüchtlinge, d.h. solche, die Ihr Land eher aufzunehmen bereit ist als andere? Wenn ja, warum?
Brahem: Nach den Geschehnissen in Libyen erlebten wir in Tunesien wahre Wellen von libyschen Flüchtlingen. Doch obwohl sie recht gut von der lokalen Bevölkerung akzeptiert werden, kann man nicht sagen, dass sie einen privilegierten Flüchtlingsstatus genießen, da ihre Situation weiterhin schwierig ist.
Werden Flüchtlinge in Ihrem Land aus Ihrer Sicht gerecht behandelt?
Brahem: Tunesien hat die Genfer Konvention ratifiziert, aber die Flüchtlinge dort leben dennoch unter schwierigen Umständen. Das Aufenthaltsrecht erlaubt ihnen weder Arbeit, noch Zugang zu Fürsorge oder Bildung. Der Staat ist ohnehin schon kaum in der Lage, die Grundbedürfnisse seiner eigenen Bewohner zu erfüllen, geschweige denn die der Flüchtlinge. Darüber hinaus verfügt der tunesische Staat weder über die finanziellen noch die logistischen oder organisatorischen Mittel, um der Situation Herr zu werden. Die Aufnahmestrukturen, die errichtet wurden, werden vom UNHCR und dem tunesischen Roten Halbmond betrieben, die die Grundbedürfnisse sicherstellen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge lebt in einem Parallelsystem, und nur wenige sehen Tunesien als Zielland. Für die Flüchtlinge ist Tunesien vielmehr eine Durchgangsstation, wo sie auf die Rückkehr in ihr Heimatland oder die Weiterreise in ein anderes Land ausharren. Nach Schätzungen halten sich mehr als eine Million Libyer in dem Land mit einer Einwohnerzahl von ungefähr elf Millionen Einwohnern auf.
Wären für Sie Einschnitte im Sozialsystem Ihres Landes akzeptabel, wenn dies helfen würde, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?
Brahem: Absolut gesehen, ja. Aber bereits eine erhebliche Anzahl von Tunesiern erhält keine Unterstützung durch soziale Sicherungssysteme, und die Fürsorge- und Gesundheitssysteme sind teilweise mangelhaft. Diese Systeme mit weiteren Aufgaben zu belasten, wäre sicherlich problematisch. Aber ich glaube nicht, dass sich die Tunesier diese Art von Fragen stellen. Die Flüchtlinge sind abhängig vom UNHCR und seinem operativen Kooperationspartner, dem Roten Halbmond.
Was sind für Sie Voraussetzungen für erfolgreiche Integration? Gibt es Mindestanforderungen
- an die Ankommenden?
Brahem: Das Erlernen der Sprache des Gastlandes und der Zugang zum Arbeitsmarkt sind wesentliche Faktoren im Prozess der Integration und Sozialisierung. Das Mindeste, was von den Flüchtlingen erwartet wird, ist der unbedingte Respekt vor Recht und Verhaltensregeln des Gastlandes.
- an die Aufnehmenden?
Brahem: Flüchtlinge bilden oft eine Bevölkerungsgruppe, die sich in einem extrem prekären und fragilen Zustand befindet. Der Aufnahmestaat ist verpflichtet, ihnen echte Hilfe und Unterstützung zu bieten. Aber Flüchtlinge sind häufig mit Unverständnis über ihre besondere Situation und einer diskriminierenden Haltung in der Gesellschaft, die sie aufnehmen soll, konfrontiert.
Kennen Sie persönlich Flüchtlinge?
Brahem: Ja, ich habe palästinensische Flüchtlinge kennen gelernt. Mehr als 6,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge sind heutzutage über die ganze Welt verstreut, und diejenigen, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, können es nicht. Trotz mehrerer UN Resolutionen, die ihr unveräußerliches Recht auf Rückkehr in ihre Heimat und ihr Recht auf ihren Besitz, von dem sie vertrieben und entwurzelt wurden, anerkennen und ihre Rückkehr fordern, werden diese Rechte stets durch den Staat Israel verweigert.
Unterstützen Sie aktiv Flüchtlinge?
Brahem: Bisher hatte ich noch nicht die Gelegenheit dazu.
Wie wird sich die Flüchtlingssituation in Ihrem Land entwickeln?
a) in den nächsten zwei Jahren?
b) in den nächsten zwei Jahrzehnten?
Brahem: Die Situation der Flüchtlinge in Tunesien ist sehr stark verknüpft mit der politischen Situation in Libyen, und diese ist noch sehr unsicher.
Können Sie sich eine Welt ohne Flüchtlinge vorstellen?
Brahem: Das Phänomen der Migration ist sehr häufig auf bewaffnete Konflikte oder Kriege zurückzuführen. Wir können vielleicht von einer Welt ohne Krieg träumen.
Wenn ja: was braucht es dazu?
Brahem: Wenn die Migrationsphänomene oft in Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten stehen, wäre die Lösung, aktiv auf eine Wiederherstellung des Friedens in der Welt hinzuarbeiten, insbesondere in den Regionen, die bereits seit langem unter kriegerischen Auseinandersetzungen verrotten. Leider geschieht das nicht immer so. Nehmen wir zum Beispiel den Nahen Osten: Die palästinensischen Flüchtlinge, die als die "vergessenen" Flüchtlinge gelten, die ältesten unter den Flüchtlingen in der zeitgenössischen politischen Geschichte, sind die zahlreichsten, gemessen am Verhältnis zur Gesamtzahl der Flüchtlinge in der Welt. Zurzeit zählen sie 6,5 Millionen aus einer Gesamtbevölkerung von zehn Millionen und haben oft eine doppelte oder sogar dreifache Entwurzelung erlebt. Aber was tut die internationale Gemeinschaft, um zu einer gerechten Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes (der mittlerweile seit nahezu 60 Jahren andauert und der, abgesehen von der Flüchtlingsfrage, eine ausgesprochen verhängnisvolle Rolle in dieser Region spielt) im Einklang mit dem Völkerrecht beizutragen?
Darüber hinaus sieht die ganze Welt im Nachhinein ein, welch ein verhängnisvoller Fehler die Invasion des Irak war und dass die Nachkriegszeit katastrophal organisiert worden ist, dass sie eine verheerende Situation im Irak und seinen Nachbarländern hervorgerufen hat. Aber was macht die internationale Gemeinschaft, und insbesondere die Großmächte, um diese Fehler wieder gut zu machen und auf einen Frieden hin zu arbeiten? In Anbetracht des ständigen Anstiegs der Waffenlieferungen von diesen Mächten in diese Region müssen wir uns wahrlich die Frage stellen, ob sie ernsthaft gewillt sind, im Sinne einer friedlichen Lösung zu agieren und auf eine Lösung der Konflikte hinzuwirken, die sie zum Teil selbst angezettelt oder unterstützt haben. Aus einem kürzlich in der Zeitung "Le Monde" erschienen Artikel erfahren wir, dass 2016 für die französische Waffenindustrie ein Rekordjahr sein wird. Weiter steht dort, dass 75 Prozent der französischen Waffenexporte im Jahre 2015 für den Nahen Osten bestimmt waren und zum Teil an sich offen gegenseitig bekämpfende Gruppierungen verkauft wurden.
Glauben Sie, dass Sie in Ihrem Leben jemals zum Flüchtling werden?
Brahem: Niemand kann vorhersehen, was die Zukunft bringen wird. Wer hätte gedacht, dass Irak und Syrien sich eines Tages in einer solchen Situation befinden würden, und dass Millionen von Irakern und Syrern eines Tages gezwungen sein würden, ihr Zuhause und ihr Land zu verlassen? Heutzutage ist die Rede davon, dass Tunesien das einzige Land des Arabischen Frühlings ist, in dem es einen friedlichen, demokratischen Übergang gab und das nicht im Bürgerkrieg und Chaos versunken ist. Das ist natürlich richtig. Aber das Land ist in einem sehr fragilen Zustand. Die wirtschaftliche und soziale Situation ist nahezu katastrophal.
Die Sicherheitslage ist besonders schwierig, vor allem wegen der chaotischen und unsicheren Lage im Nachbarland Libyen. Und die Regierung ist nach wie vor nicht in der Lage, effektiv durchzugreifen. Angesichts dieser Situation glauben viele Tunesier, dass das Land keine echte Zukunft und Aussicht auf einen dauerhaften sozialen Aufschwung hat und fürchten einen Zusammenbruch. Auch wenn ich diese ausgesprochen pessimistische Zukunftsvision nicht teile, heißt das nicht, dass die Situation weniger besorgniserregend ist. Wir hoffen alle auf ein Aufwachen, und sehen keine Lösung darin, unsere Sachen zu packen. Ich selbst hoffe, dass ich niemals gezwungen werde, Tunesien zu verlassen. Ich kann es mir heute nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.
© Goethe-Institut 2017
Das Interview ist Teil des Projektes "Wohin?", bei dem Autoren und Intellektuelle aus knapp 40 Ländern der Welt einen Fragebogen zu Flucht und Migration beantworteten. Inspirationsquelle waren dabei die Fragebögen des Schweizer Schriftstellers Max Frisch, die dieser in seinen Tagebüchern in prägnanter Weise zu allgemeinen Themen wie Freundschaft, Ehe, Tod oder Geld formulierte.