Umbrüche erinnern

Tunesiens vielleicht bekanntester Musiker Anouar Brahem bringt in seiner Heimat sein neues Werk auf die Bühne – und überrascht das Publikum durch seine Auseinandersetzung mit der tunesischen Revolution. Sarah Mersch hat sich Brahems "Souvenance" angehört.

Von Sarah Mersch

“Souvenance”, Erinnerung heißt das neue Werk, das Anouar Brahem bei der Eröffnung des diesjährigen Internationalen Festivals von Karthago vorgestellt hat. Mehr als 6.000 Zuschauer waren an diesem Abend während des Fastenmonats Ramadan gekommen, um ihn spielen zu hören, denn Auftritte in seinem Heimatland sind rar. Seit sechs Jahren hat der weit über Tunesien hinaus bekannte Musiker kein neues Album mehr veröffentlicht, seit mehr als 20 Jahren nicht mehr im Amphitheater von Karthago gespielt, denn normalerweise sucht der tunesische Oud-Spieler sich kleinere Säle aus. Die Anspannung war also doppelt groß und Brahem hat sich dafür kein einfaches Werk ausgesucht.

Der Anfang ist leicht und eingängig, das ist der Lautenspieler, den man von seinen letzten Alben kennt. Zu seinem regulären Jazz-Ensemble aus Bass (Björn Meyer), Bassklarinette (Klaus Gesing) und Klavier (Francois Couturier) hat Brahem diesmal das Kammerorchester von Tallinn eingeladen. Fließend vermischen sich die Klänge der Oud mit dem Bass, schieben sich immer wieder die Streicher des Kammerorchesters dazwischen. Brahem nimmt sich deutlich zurück und überlässt seinen Musikern die Spielfläche. Vieles davon klingt so, als hätte man es schon mal irgendwo bei Brahem gehört: Überraschungen sind die Ausnahme, immer wieder droht das Spiel in Gefälligkeiten abzurutschen. Bis sich der Tonfall schlagartig ändert.

Mal gefällig, mal sperrig

Nach einer halben, dreiviertel Stunde verschiebt sich etwas auf der Bühne, die Klänge werden sperriger und kräftiger, Brahem nimmt das Ruder wieder selbst in die Hand. Unvermittelt flimmern kurze Zeit später tonlose Aufnahmen über die Leinwand hinter dem Orchester: Frauen und Männer, Ärzte und Zivilisten drängen sich in einem Krankenhaus, aus ihren stummen Mündern stoßen Schreie. "Krankenhaus von Kasserine, 10. Januar 2011" zeigt ein Schriftzug am Ende an. In dieser Nacht, drei Tage vor der Flucht des tunesischen Machthabers Ben Ali, war es in der Stadt im Westen des Landes zu den bis dahin schwersten Auseinandersetzungen mit vielen Toten gekommen. Im nächsten Stück folgen dann Klänge einer Demonstration, die im Hintergrund aus den Lautsprechern tönt, manchmal kaum wahrzunehmen zwischen den Tönen der Musiker.

Der Aufbau des Werks spiegelt seine Entstehungsgeschichte wider. Vor dem Umbruch in Tunesien hatte Brahem begonnen, an einem neuen Album zu arbeiten. Dann floh der Diktator, die Parameter in seiner Heimat verschoben sich und der Musiker nahm sich die Zeit, sich neu zu orientieren. Erst mit den Wahlen im Jahr 2011, ein Dreivierteljahr später, konnte er sich wieder an die Arbeit machen –"Souvenance" wie es heute zu hören ist - entstand. Der Unterschied ist deutlich hörbar: von einem ruhigen, beiläufigen ersten Teil zu dem deutlich düsteren und wuchtigeren zweiten.

Anouar Brahem und sein Ensemble; Foto: Fethi Belaid/AFP/Getty Images
Der tunesische Oud-Spieler und Komponist Anouar Brahem zusammen mit seinem Enseble auf dem 50. internationalen Karthago Festival im Juli 2014 in Tunesien.

Politisierung der Musik

Es ist dabei nicht das erste Mal, dass der Musiker in seinen Werken auf die Zeitgeschichte Bezug nimmt. Sein vorangegangenes Album "The Astounding Eyes of Rita" (2008) nimmt Bezug auf ein Gedicht des verstorbenen palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch – so deutlich seh- und hörbar wie in "Souvenance" war der Einfluss der aktuellen Ereignisse jedoch nie. Der Bruch innerhalb des Werkes, die Verschiebungen die sich durch die Stücke ziehen, sind dabei so klar bereits in der Komposition angelegt, dass die Video- und Ton-Referenzen kaum noch nötig gewesen wären, um den Kontext zu verstehen.

Das Zusammenspiel des 56-Jährigen mit seinem Ensemble ist flüssig, trotz der deutlichen Anspannung von Brahem. Gewohnt zurückgenommen ergänzt Francois Couturier die Klänge der Oud, während Bassist Meyer immer wieder den Rhythmus vorantreibt. Mit Klaus Gesing schließlich tauscht er immer wieder komplizenhaft kaum wahrnehmbare Blicke aus, der reagiert mal zurückgenommen, mal wuchtig mit seiner Bassklarinette. Das Kammerorchester jedoch droht die leisen Nuancen im Spiel von Brahem immer wieder zu erdrücken, es nimmt der Oud seinen manchmal herben, fast rustikalen Charakter.

In den kommenden Monaten sind bereits mehrere Konzerte Brahems in Europa geplant, dann soll auch das neue Album erscheinen.

Sarah Mersch

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de