''Wir brauchen eine komplette Veränderung des Herrschaftssystems''
Frau Ait Zai, Sie und die von Ihnen gegründete Frauenorganisation CIDDEF fordern seit Jahren eine stärkere Beteiligung von Frauen in der algerischen Politik. Wie beurteilen Sie den Ausgang der jüngsten Parlamentswahl unter "Gender"-Aspekten?
Nadia Ait Zai: Unter "Gender"-Aspekten ist das Wahlergebnis vom 10. Mai 2012 ein beachtlicher Sprung nach vorn. Insgesamt 145 Frauen sind ins Parlament gewählt worden von insgesamt 462 Abgeordneten. Das sind fast ein Drittel aller Sitze. Bei der letzten Wahl im Jahr 2007 hatten es von insgesamt 389 Abgeordneten nur 31 Frauen ins Parlament geschafft.
Wie erklären Sie diesen Anstieg?
Ait Zai: Die Frauenorganisationen, darunter auch das CIDDEF, haben für die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote gekämpft. Die algerische Verfassung fordert die Gleichbehandlung von Männern und Frauen vor dem Gesetz. Außerdem hat Algerien die Antidiskriminierungskonvention CEDAW ratifiziert. Darin geht es unter anderem um die Verbesserung der politischen Repräsentation von Frauen. Eine Maßnahme, um diese Konvention umzusetzen, war die Erweiterung des Artikels 31 der algerischen Verfassung im Jahr 2008. Darauf basierend wurde eine Frauenquote festgeschrieben, in einem Gesetz, das im Januar 2012 in Kraft trat. Dieses Gesetz schreibt vor, dass die algerischen Frauen politisch auf allen Ebenen repräsentiert sein müssen - auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene.
Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf sollten mindestens 30 Prozent der gewählten Volksvertreter weiblich sein. Dieses Vorhaben wurde gekippt. Stattdessen wurden Quoten für die Kandidatenlisten festgelegt: Die Parteien mussten 20, 30, 40 oder 50 Prozent Frauen pro Liste aufstellen, je nach Anzahl der Wahlberechtigten pro Wahlkreis. Wie sehen sie das?
Ait Zai: Die politischen Parteien haben die gesetzliche Frauenquote in Scheibchen geschnitten. Im Gesetzentwurf hatte es eigentlich geheißen: Die Frauen müssen auf den Listen so platziert sein, dass sie eine Chance haben, gewählt zu werden. Aber der neue Artikel 2 besagt jetzt, dass die Zahl der Frauen pro Liste nicht unter 20, 30, 40 oder 50 Prozent liegen darf – je nach Zahl der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis. Das Gesetz legt nicht eindeutig fest, an welcher Stelle die weiblichen Kandidatinnen auf den Wählerlisten stehen müssen.
Dennoch ist die Quote eine Errungenschaft. Bislang war es dem Gutdünken der Parteien überlassen, ob sie Frauen auf die Kandidatenlisten setzten. Jetzt haben wir zum ersten Mal ein Gesetz, das die Partizipation von Frauen verbindlich vorschreibt. Und die Parteien haben bei der letzten Wahl gezeigt, dass sie auch tatsächlich bereit waren, mehr Frauen zuzulassen – indem Frauen nicht nur ganz unten auf den Listen standen, sondern zumindest teilweise auch auf Plätzen, die eine reale Chance boten, gewählt zu werden. Dieser politische Wille ist sehr bedeutsam. Er birgt das Potential, neue, veränderte Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu schaffen.
Welche Rolle haben unabhängige Frauenorganisationen bei der Durchsetzung der Quote gespielt?
Ait Zai: Die Frauenvereinigungen haben Druck gemacht, und dieser Druck hat Wirkung gezeigt. Das Informations- und Dokumentationszentrum CIDDEF zum Beispiel hat seit 2003 systematisch zu diesem Thema gearbeitet. Wir haben an einer Maghreb-weiten Studie zum Thema Frauen in der Politik teilgenommen und auf höchster Ebene für Veränderungen geworben. Der Präsident hat unsere Empfehlungen positiv aufgenommen.
Was hat das CIDDEF im Vorfeld der Wahlen getan, um die Erfolgsaussichten der weiblichen Kandidatinnen zu verbessern?
Ait Zai: Wir haben viele Frauen fortgebildet. Dabei ging es vor allem um praktische Fragen. Wie hält man eine Rede? Wie geht man auf die Wähler zu, wie kommuniziert man mit ihnen? Wie organisiert man eine öffentliche Veranstaltung? Die Teilnehmerinnen an unseren Workshops haben sich alle zur Wahl gestellt. Das waren immerhin 20 Frauen – eine schöne Erfahrung. Neben diesen praktischen Kompetenzen war uns wichtig, dass die Frauen im Fall ihrer Wahl die Verbindung zwischen Zivilgesellschaft und Parlament aufrechterhalten, dass sie im Parlament das Sprachrohr der Gesellschaft sind.
Wie wird sich die verstärkte Präsenz von Frauen im algerischen Parlament auswirken?
Ait Zai: Die stärkere Präsenz von Frauen führt dazu, dass das Parlament nicht mehr als reine Männerinstitution gesehen wird. Frauen haben einen anderen Blick, wenn es darum geht, Gesetze zu machen und zu verabschieden. Die weiblichen Abgeordneten werden ein Forum schaffen müssen, das sich insbesondere um frauenrelevante Themen kümmert.
Einigen Parteien wurde vorgeworfen, sie hätten die Ehefrauen oder weiblichen Verwandten der Parteiobersten auf die Listen gesetzt, um die Quoten formal zu erfüllen. Manche der gewählten Frauen vertreten politische Positionen, die nicht im Sinne der Frauenemanzipation sind. Glauben Sie, dass die neuen weiblichen Abgeordneten sich aktiv den großen "Gender-Baustellen" widmen werden: der Reform des Familienrechts und dem Gewaltschutzgesetz?
Ait Zai: Die Parteien hatten teilweise Probleme, weibliche Kandidatinnen zu finden. Vor allem die über zwei Dutzend neuen Parteien mussten intensiv suchen, um ihre Listen zu vervollständigen. Das wirkt sich problematisch auf die Qualität aus, denn da wurden teilweise Frauen ohne jegliche politische Erfahrung ins Rennen geschickt.
Wir können jetzt noch nicht absehen, ob die neuen weiblichen Abgeordneten sich konkret für Frauen- und Menschenrechte einsetzen. Viele der Frauen, die gewählt worden sind, haben sich bislang nicht um diese Themen gekümmert, geschweige denn dafür gekämpft. Deshalb müssen wir als zivile Gesellschaft, mit unseren unabhängigen Vereinen darauf drängen, dass sie die Frauen- und Menschenrechte auf ihre Agenda setzen. Die weiblichen Abgeordneten stehen ja auch ein Stück weit in der Schuld der Frauenorganisationen. Diese Organisationen haben mit ihren Kampagnen entscheidend dazu beigetragen, dass jetzt so viele Frauen im Parlament sind.
Über wieviel politische Macht verfügt das algerische Parlament wirklich?
Ait Zai: Aufgrund der starken Stellung des Präsidenten ist die Macht des Parlamentes relativ begrenzt. Die Abgeordneten diskutieren über Gesetzentwürfe, die die Regierung vorlegt, aber unterm Strich ist das algerische Parlament nicht viel mehr als eine Verlautbarungsinstitution. Daran ändern auch die jüngsten Gesetzesreformen nichts. Was wir brauchen, ist eine komplette Veränderung des Herrschaftssystems. Demokratie muss man aufbauen. Es geht nicht nur um Wahlen, sondern auch um Institutionen, um die Gewaltenteilung, um die Autonomie der Judikative, Legislative, Exekutive.
Das neue Parlament soll Verfassungsreformen verabschieden. Aber was wird in der neuen Verfassung stehen? Wie wird es um die Frauenrechte bestellt sein? Welche Art von Herrschaftssystem werden wir haben? Wird der Präsident weiterhin die Macht ausüben, oder wird das Parlament gestärkt? Das sind die Fragen, über die wir sprechen müssen.
Was sind mit Blick auf die kommende Legislaturperiode und die anstehenden Verfassungsreformen die Prioritäten der algerischen Frauen?
Ait Zai: Wir haben am Ende der vergangenen Legislaturperiode bereits mit den Parlamentsabgeordneten an einem Gesetz gearbeitet, das Frauen besser vor Gewalt schützen soll. Dieser Gesetzentwurf, der dem Parlamentsvorsitz bereits vorgelegt wurde, muss vom neu gewählten Parlament wieder aufgenommen werden. Das hat Priorität. Ein weiteres Thema ist das Familienrecht. Es gab in den letzten Jahren Fortschritte beim Staatsangehörigkeitsrecht, beim Thema sexuelle Belästigung. Aber was das Scheidungsrecht betrifft oder das Sorgerecht für die Kinder, so sind Frauen nach wie vor benachteiligt. Da gibt es also Reformbedarf. Ein anderes wichtiges Vorhaben ist, die Repräsentation von Frauen in den politischen Gremien klar zu fixieren und in einem Rahmengesetz festzuhalten.
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2012
Prof. Nadia Ait Zai lehrt Familienrecht an der Universität von Algier. Außerdem ist sie Gründerin und Leiterin des unabhängigen Dokumentationszentrum CIDDEF für Frauen- und Kinderrechte in Algier.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de