''Krise der männlichen Identität''
Beim Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten spielten Frauen eine wichtige Rolle. Warum werden sie nun bei Demonstrationen häufig mit Gewalt bedroht und sexuell belästigt?
Amel Grami: Wir waren jahrzehntelang der Meinung, in Tunesien sei die relative Gleichberechtigung der Frauen selbstverständlich. Doch nun begreifen wir, dass Tunesien nicht anders als die anderen arabischen Länder ist. Früher fühlten wir uns in Tunesien als das Modell für Fortschritt in der arabischen Welt. Jetzt merken wir von Tag zu Tag mehr, dass die Islamisten entschlossen sind, dieses Modell zu zerstören. Doch die Tunesierinnen wollen keine Einheitskultur. Sie suchen nach ihrer eigenen Identität und entdecken sich. Sie "entschleiern" sich, um es symbolisch auszudrücken.
Viele Frauen in Tunesien kritisieren nicht nur die Islamisten, sondern auch ihre säkularen Koalitionspartner in der Regierung. Während einer Demonstration Ende März gegen Frauenministerin Sihem Badi, die wie Staatspräsident Moncef Marzouki der säkularen Partei "Congrès pour la Républic" angehört, droschen Teilnehmerinnen mit Schuhen auf das Ministerium ein ...
Grami: ... das war ein symbolischer Akt, der an die Aktion des irakischen Journalisten gegen den damaligen US-Präsidenten George Bush erinnerte. Die Kritik richtete sich vor allem gegen Sihem Badis Position zur "Ennahda"-Partei und gegen den zögerlichen Umgang der Regierung mit einer ganzen Reihe von Fällen sexuellen Missbrauchs an Kindern.
Gleichzeitig war die Schuhaktion eine Anspielung auf ein konkretes Ereignis. Als die Besitztümer von Ex-Präsident Ben Ali und seiner Frau Leila Trabelsi versteigert wurden, ließ die Ministerin Sihem Badi sich mit den Schuhen der ehemaligen First Lady Leila Ben Ali fotografieren. Einige Schuhe hat sie sogar anprobiert. Das wurde scharf kritisiert.
Sihem Badi hat versucht, die Aktion zu rechtfertigen. Aber viele hatten den Eindruck gewonnen, dass der Luxus sie faszinierte und dass ihr Vorgehen unangemessen war. Die Demonstration am 29. März in Tunis sollte zeigen, dass die Frauenministerin die Frauen nicht repräsentiert und dass sie ihren Posten nicht verdient.
Woran machen Sie das politisch fest?
Grami: Ein Beispiel: Es gibt in Tunesien jetzt einen Trend, schon sehr junge Mädchen zu verschleiern. Das widerspricht dem Islam, denn der Islam schreibt vor, dass Mädchen sich frühestens mit 13, 14 Jahren bedecken sollen, wenn sie in die biologische Pubertät kommen. Als demokratische Aktivistinnen gegen die Verschleierung von Kindern protestierten, hat Sihem Badi keine klare Stellung bezogen, sondern den Feministinnen empfohlen, mit den Befürwortern dieser Praxis zu diskutieren. Sie warf den intellektuellen Frauen und den Demokratinnen vor, sie seien dem Stillstand verhaftet und wollten sich nicht weiterentwickeln.
Wie wirken sich die arabischen Revolten auf die Diskussion über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen aus?
Grami: Heute geht es immer weniger darum, die arabische Welt und den Westen zu vergleichen, sondern um Vorurteile und Stereotype. Man redet jetzt offen über die inneren Probleme der arabischen Gesellschaften. Der oder das "Andere" ist nicht mehr der Westen, sondern es sind die islamistischen Bewegungen und Parteien oder deren Gegner, die Säkularen.
Eine andere Folge der arabischen Revolutionen ist die Krise der männlichen Identität. Nach dem Sturz von Ben Ali und von Mubarak wollen die Männer alles hinter sich lassen: Die Jahre der Unterdrückung und der Ohnmacht und den damit verbundenen Verlust der Männlichkeit, der männlichen Ehre. Wir bräuchten eigentlich ein Fach "Männerstudien" an den Universitäten, denn die arabische Welt ist in dieser Hinsicht eine riesige Baustelle.
Was meinen Sie konkret?
Grami: Die Revolutionen haben den arabischen Männern gezeigt, dass sie nicht in der Lage waren, ihre Würde zu verteidigen. Gleichzeitig sieht man in Bahrain, Libyen, Ägypten, Tunesien und vor allem in Syrien Tausende Frauen, die keine Angst vor dem Tod haben.
Diese Frauen stellen sich bei Demonstrationen den Soldaten und der Polizei in den Weg. Sie sagen laut ihre Meinung, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie sind auf den Straßen präsent, trotz des Risikos, vergewaltigt zu werden. Diese Frauen gehen aus dem Haus, ohne ihre Familien zu fragen. Sie haben alle Ketten gesprengt.
Die Männer spüren, dass diese Frauen den Männern gleich geworden oder sogar noch stärker als sie sind. Das macht vielen Männern Angst und sie reagieren mit Gewalt. Sie wollen diese Frauen vereinnahmen, das alte patriarchale Modell wieder aufbauen, um den Mann wieder in Wert zu setzen. Aber das geht nicht mehr.
In den islamistischen Parteien und Bewegungen sind auch zahlreiche Frauen aktiv. Ihre Vordenkerinnen postulieren, dass der Islam "an sich" Frauen nicht diskriminiere. Sie sagen, dass der Koran und die heiligen Texte des Islams falsch interpretiert würden und fordern eine neue, weibliche Lesart. Wie sehen Sie das?
Grami: Nach der Revolution hatte ich eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Ideologien und den religiösen Diskursen erwartet – eine freimütige, offene Debatte auf den Grundlagen des Islams. Aber zu meinem großen Erstaunen musste ich feststellen, dass von den "Ennahda"-Frauen keine einzige in der Lage war, auch nur ansatzweise einen religiösen Text zu analysieren.
Die Frauen der "Ennahda"-Partei haben keinerlei Ausbildung in dieser Hinsicht. Deshalb sind sie unfähig, den Koran und die klassischen Texte im Sinne der Moderne neu zu lesen. Sie haben nicht den Anspruch, als Rechtsgelehrte (Alimaat/Muftiyaat) aufzutreten, wie das manche Frauen in Ägypten tun. Das war für mich eine echte Entdeckung.
Ich hatte als Akademikerin fest geglaubt, dass diese Frauen sich grenzübergreifend über das Internet austauschen, zum Beispiel mit islamistischen Vordenkerinnen in Ägypten, wie Heba Raouf. Aber mir ist klargeworden, dass das nicht der Fall ist.
Mindert das nicht die Glaubwürdigkeit der "Ennahda"-Partei?
Grami: Ich glaube, die "Ennahda"-Partei hat sich bewusst entschieden, keine Debatte über religiöse Texte zu führen. Ihre Leute haben nicht die theologischen Kompetenzen, und sie sind sich bewusst, dass die Wähler verlieren würden, wenn sie sich auf religiöse und methodische Debatten einlassen. Die "Ennahda" spielt aber die populistische Saite, sie braucht eine einfache Sprache. Ein paar Verse aus dem Koran sind genug. Ihnen geht es nicht darum, dass die Menschen selbst denken oder Fragen stellen. Es geht um politische Macht im Namen des Islams.
Ist Gleichberechtigung von Männern und Frauen ohne eine Trennung von Staat und Religion möglich?
Grami: Nein. Das zeigen auch die aktuellen Debatten über die UN-Konvention gegen Frauendiskriminierung (Convention to Eliminate all Forms of Discrimination against Women – CEDAW) in Tunesien. Der Religionsminister hat sich dazu geäußert und klar gesagt, dass er gegen die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist. Er ist für "Komplementarität"; das heißt partielle Gleichberechtigung.
Im politischen Vokabular der Ennahdaouis und der Salafisten existieren zwar moderne Schlagwörter und Konzeptionen: die Demokratie, die Zivilgesellschaft, die Partizipation, Transparenz, gute Regierungsführung. Sie haben diese Begriffe auswendig gelernt. Sogar die Salafisten reden von Demokratie. Aber es wird immer deutlicher, dass sie eine eigene Konzeption dieser Begriffe haben, eine Konzeption, die total von der universalen Geschichte dieser Konzepte in der ganzen Welt abweicht.
Die Tunesier sollen noch in diesem Jahr ein neues Parlament wählen. Glauben Sie, dass Neuwahlen die politische Stagnation beenden werden?
Grami: Ich bin skeptisch. Die jetzige Regierung will nicht wahrhaben, dass in Tunesien immer mehr Waffen zirkulieren – und sehr viel Geld. Bei der kommenden Wahl wird der Stimmenkauf ein Riesenproblem sein.
Was erwarten Sie von der EU und Deutschland?
Grami: Die EU und die deutsche Regierung unterstützen die tunesische Regierung, obwohl sie die Menschenrechte verletzt, und auch die Werte der Revolution. Ich meine, dass finanzielle und technische Hilfen an striktere Bedingungen geknüpft werden müssen. Die EU und vor allem Deutschland muss stärker darauf drängen, dass die tunesische Regierung die Menschenrechte und die Demokratie respektiert.
Interview: Martina Sabra
© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2013
Amel Grami ist Professorin für arabische und islamische Geistesgeschichte an der Universität La Manouba in Tunis.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de