''Die Banalität der Gewalt''
In Ihren Arbeiten zeichnen Sie ein düsteres Bild Tunesiens. Ist Ihre Heimat heute wirklich in Gefahr? Und was ist von der einstigen revolutionären Aufbruchsstimmung noch übrig geblieben?
Meriam Bousselmi: Wir Tunesier hatten eine einmalige historische Gelegenheit, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und was ist geschehen? Wir hatten vorher einen Diktator und eine rote Linie, die wir nicht überschreiten durften. Und heute haben wir tausende von Diktatoren und etliche rote Linien.
Wir leben in einer Zeit der Unterdrückung vieler Freiheiten. In meinem aktuellen Stück werfe ich die Frage auf: Sind wir als Tunesier in der Lage, die Freiheit zu genießen? Sind wir in der Lage, demokratische Verhältnisse einzuführen? Können wir den Anderen tatsächlich respektieren? Oder machen wir nur eine Revolution, um zur alten Zeit zurückkehren zu können? Die Islamisten wollen uns zwingen, uns nach ihren Vorstellungen zu kleiden, oder sie drohen uns mit Mord. Wir dürfen noch nicht einmal mehr über Religion oder Moral offen diskutieren!
Ihr neuestes Stück heißt "Sabra", was Geduld bedeutet, zugleich ist es auch ein weiblicher Vorname. Warum "Sabra"?
Bousselmi: Weil ich von einem Land erzähle, das eine Revolution vollbracht hat. Aber jetzt kämpft es gegen Vorhaben, die aus dem Mittelalter stammen könnten: Eine reaktionäre religiöse Macht herrscht heute in Tunesien und eine relativ strenge Zensur. In "Sabra" erzählen wir von dieser Situation in unserem Land. Ich zweifele inzwischen daran, dass dort tatsächlich eine Revolution stattgefunden hat.
In der ersten Szene, in "Hochzeit der schwarzen Heimat", fragen wir: Haben wir nicht die Revolution geschaffen, um Freiheit, einen Rechtsstaat und eine zivile Gesellschaft zu erlangen? Aber was wir nun erleben, ist eine radikale Veränderung des Lebens in Tunesien. Das betrifft nicht nur die Kleidung, sondern auch den öffentlichen Raum. Zum Beispiel: die Verrichtung des Gebets am Strand und auf der Straße. Auch kommt es vor, dass sie Schauspieler von der Bühne vertreiben, um zu beten. Es passieren hier wirklich merkwürdige Dinge.
Die zweite Szene haben Sie "Lobgesang auf die Hiebe" genannt. Worum geht es dabei?
Bousselmi: Es geht um die Banalität der Gewalt. Die Leute, die früher unterdrückt wurden, in den Gefängnissen saßen und gefoltert wurden, sind heute an der Macht. Sie üben nun die Gewalt gegen Andere aus. Es geht gar nicht darum, dass man verschiedener Meinungen ist und trotzdem zusammenlebt. Sie verbreiten Angst und lassen die Salafisten im öffentlichen Raum gewähren, mit Gewalt gegen uns vorzugehen. Das ist auch dem Philosophen Hamadi Redissi passiert, der bei einem Vortrag gesagt hatte: „Es gibt keine Demokratie in Verbindung mit islamischer Religion.“ Er wurde danach verprügelt, vor den Augen des Publikums, und niemand hat ihm geholfen.
Die dritte Szene heißt "Eine unmögliche Liebe". Die Inspiration hierzu kam durch ein Ereignis an der Universität Tunis. Dort hatte ein Salafist versucht, die Nationalflagge auf dem Dach herunterzureißen und stattdessen die Fahne der Salafisten zu hissen. Niemand hat sich dagegen gewehrt – bis auf eine einzige Studentin. Sie stieg auf das Dach und versuchte, einen der Salafisten an der Aktion zu hindern. Daraufhin verprügelte er sie, obwohl sie versuchte, das abzuwenden. Da wollte ich doch die Frage stellen: Wohin gehen wir in Tunesien eigentlich? Wir müssen jetzt aufwachen. Wir tragen doch alle Verantwortung!
Angst ist das beherrschende Thema im Stück "Sabra". Haben die Menschen in Tunesien diese Angst nicht überwunden?
Bousselmi: Vor der Revolution war es die Angst vor der Regierung, vor der Polizei, jetzt ist es die Angst vor einer religiös dominierten Gesellschaft. Kaum eine Woche vergeht ohne Gewalt oder physische Angriffe gegen Schriftsteller, Journalisten, Intellektuelle, Professoren und Künstler.
Ist die jetzige Situation in Hinblick auf Ihre Arbeit für Sie nicht auch äußerst bedrohlich?
Bousselmi: Die Angst hat heute auch die Schauspieler und Musiker erreicht, die mit mir arbeiten. Sie lehnen es ab, bestimmte Szenen zu spielen und sagen: Ich habe Angst, dass ich dann von Islamisten verprügelt werde. Die Regierung steht nicht auf unserer Seite, sie beschützt uns nicht. Die Extremisten können uns jederzeit in unseren Proberäumen angreifen, sogar während der Vorstellungen können sie uns attackieren und uns verbieten, unsere Arbeit zu präsentieren. Die Schauspieler wollen nicht mehr, dass ihre Fotos auf Plakaten gezeigtw erden, weil sie Angst davor haben, dass womöglich ihre Häuser und Autos angezündet werden. Sie wollen nur im Ausland mit mir spielen.
Mehrmals sind bereits Choreografen und Schauspieler abgesprungen, weil ihnen die Inhalte zu riskant schienen. An dem Projekt "Sabra" waren ursprünglich zehn Künstler beteiligt. Später haben sie alle die Probe abgesagt. Sie wollten, dass ich keine religiösen Rituale oder Suren aus dem Koran thematisiere.
Mit "Sabra" versuchen Sie auch den musikalischen Brückenschlag zwischen den widersprüchlichen musikalischen Traditionen Tunesiens. Der sogenannten "Soulamiya", den traditionellen Sufigesängen zum Lobe des Propheten, stehen die Lieder der traditionellen tunesischen Hochzeitsfeste gegenüber. Haben Sie damit nicht ein gesellschaftliches Tabu gebrochen?
Bousselmi: Sufische, religiöse Lieder gehören für mich zur künstlerischern Tradition Tunesiens und zum Volksgedächtnis Tunesiens wie alle anderen Musiken auch. Nur Männer dürfen diese Lieder vortragen. Frauen haben dazu keinen Zugang. Dabei erzähle ich über die Auseinandersetzungen zwischen dem fortschrittlichen und dem reaktionären Denken. Die religiösen Gesänge werden von männlichen Interpreten vorgetragen und die festlichen Hochzeitsgesänge von den Frauen. So habe ich beide Musiken miteinander vermischt.
Interview: Suleman Taufiq
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de