Politische Teilhabe statt Ausgrenzung von Muslimen
Ihr Vater lebte im französischen Exil und auch Sie sind in Frankreich aufgewachsen. Was hat Sie dazu veranlasst, nach Tunesien zu gehen?
Saida Ounissi: Ich war fünf Jahre alt, als wir nach Frankreich kamen. Dort habe ich den wohl wichtigsten Teil meines Lebens verbracht. Die französische Kultur bedeutet mir sehr viel. Ich bin dort zur Schule gegangen, unter anderen auf eine katholische, und habe an einer französischen Universität studiert. Ich habe mich auf lokaler Ebene engagiert und für die Tageszeitung "Le Monde“ geschrieben. Man hat mich als positives Beispiel für Integration gesehen, doch ich war wohl zu religiös für französische Standards. Jedenfalls wurde ein Hidschab in meinem akademischen und intellektuellen Umfeld definitiv nicht akzeptiert. Dabei könnte ich im Prinzip nicht französischer sein, als ich bin, dennoch habe ich das Gefühl, dass es für mich dort im öffentlichen Leben keinen Platz gibt.
Diese Beschränkungen habe ich schon früh gespürt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich das erste Mal öffentlich beleidigt wurde: Mein früherer Professor hatte mich einmal mit der Begründung aus seinem Seminar geworfen, der Hidschab sei nicht mit den universitären Werten vereinbar. Er warf mir die Tötungen von Franzosen im besetzten Algerien und während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren vor. Ich habe mich deswegen beschwert, doch es hat zu nichts geführt. Vielleicht aber trägt dieser Fall dazu bei, dass Historiker in 50 Jahren unsere heutige Gesellschaft besser verstehen werden. Ich habe den Eindruck, dass man in Frankreich oft nicht sehr weit kommt, wenn man einen muslimischen Hintergrund hat. Führungspositionen für Muslime sind immer noch die Ausnahme, obwohl viele beruflich qualifiziert und engagiert sind. Dieser Mangel an Möglichkeiten in Frankreich hat denn auch nach dem Ende der Ben-Ali-Diktatur im Jahr 2011 viele Tunesier dazu veranlasst, nach Tunesien wieder zurückzukehren.
Geschah das in der Hoffnung, dass Tunesien sich nach der Jasminrevolution in eine Demokratie verwandeln würde?
Ounissi: Ja, aber nicht nur das. Ausschlaggebend war auch, dass in dieser Zeit viele westliche Gesellschaften zunehmend nach rechts rückten. Ich meine insbesondere den Aufstieg des "Front National" in Frankreich oder der "Alternative für Deutschland". Und der vergangene Wahlkampf in den USA und die Wahl Trumps haben diese Tendenz ja jüngst wieder bestätigt. In Tunesien beobachten wir jedoch erstaunlicherweise eine gegenläufige Entwicklung: Dort sinkt beispielsweise die Akzeptanz für die Einschränkung der Rechte von Frauen und Minderheiten. In Tunesien melden sich bei derartigen frauenfeindlichen oder rassistischen Vorfällen viele Gegenstimmen in der Öffentlichkeit, im Parlament, aus der Zivilgesellschaft oder in den Medien. In Europa ist dies oftmals nicht der Fall, wenn man den rasanten Anstieg von Hassverbrechen oder Hetzreden sieht.
Welche Erklärung haben Sie für diese Entwicklung? Welche Gründe gibt es für die zunehmende Feindschaft gegenüber Muslimen und Flüchtlingen? Schließlich ist die Immigration von Muslimen aus verschiedenen Ländern nach Europa ja kein neues Phänomen?
Ounissi: Der Assimilierungsprozess im Frankreich der 1960er und 70er Jahre war sehr einschneidend und radikal. Migrantische Eltern haben mit ihren Kindern oftmals nicht über ihre Herkunft gesprochen, weil sie sie unbedingt zu Franzosen machen wollten, um ihnen letztlich jene Diskriminierung zu ersparen, die sie selbst erfahren mussten. Diese rechnung geht aber nicht auf, wenn die Ausgrenzung kontinuierlich erfolgt, nur weil man den Namen "Muhammad" trägt oder wie auch immer nicht "typisch französisch" aussieht. In der lokalen Moscheegemeinde, in der ich aktiv war, berichteten mir Kinder von Eltern aus Nordafrika oder dem subsaharischen Raum von dem Balanceakt, sich einerseits zu Hause als Franzose zu fühlen, andererseits öffentlich aber als Nicht-Franzose zu gelten.
Wenn also Historiker in 50 Jahren an Beispielen wie in ihrem Fall Islamophobie und Rassismus ablesen können, wie Sie sagen, kann man davon ausgehen, dass sich die Situation bis dahin verbessert hat?
Ounissi: Ich glaube nicht, dass es noch schlimmer werden kann. Die Stigmatisierung von Muslimen, die politischen, medialen Angriffe und die individuellen Gewaltakte nehmen gegenwärtig zu. Das ist nicht nur meine subjektive Wahrnehmung, sondern wird auch von etablierten Organisationen wie "Human Rights Watch", "La Cimade" oder "Amnesty International" bestätigt. Die Zunahme von Islamphobie in Europa lässt sich quantitativ belegen, sie ist eine traurige Realität.
Ich denke trotzdem, dass die Existenz muslimischer Gemeinden in Europa nicht mehr umkehrbar ist. Die Menschen engagieren sich in ihrem Umfeld, machen eine Ausbildung, verfügen über Kenntnisse, die gebraucht werden, und sind Teil des wirtschaftlichen Lebens. Diese Menschen kann man nicht alle vertreiben. Sie sind sehr politisiert und nehmen am politischen Leben teil, insbesondere auf lokaler Ebene.
Interessant für mich ist, wie sich in letzter Zeit der Diskurs in den Moscheen in Frankreich entwickelt hat. Imame rufen zur Beteiligung an Wahlen auf, sie bitten die Menschen um Zurückhaltung nach fremdenfeindlichen Übergriffen. Und sie forderten zur Beteiligung an der nationalen Trauer nach den extremistischen Anschlägen von Paris oder Nizza auf. Sie sorgen dafür, dass sich die muslimischen Gemeinden als Teil der Nation begreifen. Die Moscheen sind heute eine integraler Bestandteil des politischen Lebens für viele Muslime.
Darin könnte aber auch eine Gefahr liegen, wenn man sich das Beispiel Tunesien vor Augen hält…
Ounissi: Das stimmt. Doch um radikal-islamistischen Entwicklungen entgegenzuwirken, haben wir ganz bewusst Imame in unsere Antiterrorstrategie aufgenommen. Es werden Schulungen durchgeführt, wie sie gegen extremistische Gruppen in ihren Gemeinden gezielt vorgehen können. Auch bieten wir Redetrainings und Fortbildungen im Bereich der Sozialen Medien an. Leider ist es heute so, dass vielen unpolitischen Imamen immer weniger Beachtung geschenkt wird. Wenn aber junge, religiös geprägte Menschen in ihren lokalen Moscheen keine befriedigenden Antworten auf ihre sozialen, religiösen und politischen Fragen finden, wenn Imame nur von Dingen predigen, die nichts mit den täglichen Interessen der Menschen zu tun haben, dann wenden sie sich anderen Predigern zu, nicht selten den Extremisten. Deshalb müssen Moscheen Teil des politischen Lebens sein und in politische Entscheidungen einbezogen werden. Schließlich stellen sie oft den einzigen wirklichen öffentlichen Raum in vielen Städten und auf dem Lande dar.
Heute leben mehr als zwölf Millionen Muslime in Frankreich. Welche gesellschaftliche Rolle sollte ihnen Ihrer Meinung nach künftig zuteil werden?
Ounissi: Die Möglichkeiten sind vielfältig. Ein französischer Muslim könnte einem Franzosen doch besser die Lage oder Geschehnisse in einem muslimischen Land erklären. Ein gebürtiger Franzose dagegen viel eher die französische Politik einem muslimischen Publikum. Auf diese Weise könnten wir kulturelle und politische Brücken zwischen Europa und den muslimischen Ländern schlagen. Schließlich sind wir alle Opfer der Terroristen, egal ob wir nun muslimisch sind oder nicht. Und wenn sich dieser Terrorismus auf eine dezidiert islamisch-fundamentalistische Ideologie bezieht, wäre es dann nicht effektiver, all jene Menschen in die Debatten einzubeziehen, die den Hintergrund dieser Ideologie kennen und gewisse Stellungnahmen oder Taten interpretieren und analysieren können? Der Konflikt wird jedoch leider dichotomisch begriffen, als Krieg von Muslimen gegen Nicht-Muslime. Meiner Meinung nach wurde der religiöse Ansatz bei der Antiterrorismusprävention für politische Interessen zweckentfremdet.
Derzeit findet in Europa eine Art der Wertedebatte statt, die ein Hindernis für die Integration von Muslimen darstellt. Muslimische Werte, oder jedenfalls solche, die stereotyp dafür gehalten werden, gelten vielerorts als fremd. Wie lässt sich diese Wahrnehmung verändern?
Ounissi: Nehmen wir das Beispiel Säkularismus: Ich betrachte den Säkularismus mehr als Chance, nicht als Bedrohung. Die Muslime in Europa brauchen den Säkularismus als Basis für gesellschaftliche Akzeptanz. Ansonsten müssten alle katholisch werden, wie vor 1905 in Frankreich. Wenn wir den Säkularismus als Referenzrahmen für kulturelle und religiöse Vielfalt interpretieren, dann hat die heterogene muslimische Gemeinde in Frankreich viel dazu beigetragen. Es ist bereits viel Energie in die Etablierung eines "französischen Islam" geflossen, der kompatibel mit den französischen Werten ist. Es ist Privatsache, was man persönlich glaubt oder anzieht. Und in Hinblick auf die muslimische Gemeinschaft bedeutet das: Wir glauben alle an einen Gott und seinen Propheten Muhammad. Doch über alles andere lässt sich offen diskutieren. Und ein solcher Dialog wäre für alle Seiten eine sehr löbliche Lernerfahrung. Meiner Erfahrung nach haben sich Frankreichs Muslime durchaus positiv in die Gesellschaft eingebracht. Ich selbst war im interreligiösen Dialog sehr aktiv, hauptsächlich mit Christen. Die Priester, die an diesem interreligiösen Dialog teilnahmen, erzählten, dass diese Form des Gesprächs auch ihre Gemeinden wiederbelebt habe.
Mein Eindruck ist, dass Europa gegenwärtig unter einer Identitätskrise leidet. Viele Menschen suchen nach Antworten. Ich bin der Auffassung, dass das Leben ohne Spiritualität leer ist, und offenbar machen derzeit viele Menschen in Europa dieselbe Erfahrung. Religion ist eine sehr soziale Angelegenheit und eine Säule jeder Gesellschaft. Muslime können dazu beitragen, dass diese Dynamik wieder in Gang kommt. Europäische Muslime sind überwiegend europafreundlich eingestellt und interessieren sich für ein starke Union, die sehr heterogen ist und damit eine Garantie für Offenheit und individuelle Freiheit darstellt. Als Muslim gibt es in Europa die seltene Möglichkeit, in einem anderen Kontext zu leben und zu lernen, sich gegenseitig zu akzeptieren und nicht jene auszuschließen, deren Ansichten einem nicht passen.
Das Interview führte Peter Schäfer.
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Peter Schäfer ist Leiter des Büros für die Region Nordafrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis.