''Alles was uns fehlt, ist der Takt der Freiheit''
Herr Jandali, Sie sagten, Sie würden einen besonderen Gegenstand zu diesem Interview mitbringen?
Malek Jandali: Ja. Ich habe hier ein Stück von einem "Schipschip". Es ist der vordere Teil einer kleinen, bunten Flipflop-Sandale. Sie gehört einem Kind, dem es gelungen ist, am Jabal Al-Zawiya von Syrien in die Türkei zu fliehen – unverletzt, trotz der schweren Bombardements durch die syrische Luftwaffe. Einige syrische Studenten haben dieses Stück von einer Recherchereise in Flüchtlingslagern in der Türkei mitgebracht. Wir haben die Flipflop-Sandale während meines Benefizkonzerts symbolisch versteigert, und es sind mehrere tausend Euro zusammengekommen. Ich glaube, es ist die teuerste Fußbekleidung, die ich jemals gesehen habe. Das ist nicht Gucci, oder Armani, nein, diese Marke heißt Freiheit. Schauen Sie genau hin – sie ist wirklich unbezahlbar...
In den vergangenen zwei Jahren haben Sie rund um den Globus erfolgreich Konzerte gegeben, unter anderem in New York, London und Wien. Wie hat es sich angefühlt, zum ersten Mal in Deutschland aufzutreten?
Jandali: Ich wurde 1972 in Deutschland geboren und habe hier den Kindergarten besucht. Meine ersten Begegnungen mit der Musik hatte ich hier. Als ich sechs Jahre alt war, zogen meine Eltern mit mir nach Syrien. Aber bis zu meinem zwölften Lebensjahr kam ich jeden Sommer nach Deutschland, zur "Sommerschule" in Waldbröl, nicht weit von Bonn entfernt. Dort erhielt ich Klavierstunden. Leider habe ich den Kontakt zur meiner Lehrerin irgendwann verloren.
Mein letzter Besuch in Deutschland war also in den 1980er Jahren, fast 30 Jahre ist das nun schon her. Ich finde es wunderbar, wieder hier zu sein. Das Konzert im Capitol in Offenbach war sehr gut besucht, und es war eine tolle Gelegenheit, mit den Deutschen und der syrischen Community in Kontakt zu kommen und gleichzeitig etwas für die syrischen Kinder zu tun – für ihre Revolution und die Freiheit.
Sie sind in Homs aufgewachsen. Wie haben Sie es damals geschafft, Klavierstunden zu bekommen?
Jandali: Das war in der Tat eine Herausforderung. Es gab keine Musikschule. Meine ersten Musikstunden hatte ich bei einem Trompetenlehrer. Aber es gab ausgezeichnete Klavierlehrer am Tschaikowski-Institut in Damaskus. Also bin ich jeden Donnerstag über 100 Kilometer mit dem Bus von Homs nach Damaskus und zurück gefahren, alles zusammen vier bis fünf Stunden. Später habe ich mich an ausländischen Universitäten beworben und ein Vollstipendium für die USA erhalten.
Sie sind unter dem Baath-Regime aufgewachsen und zwischen Syrien und den USA hin- und hergereist, als das Assad-Regime noch stabil war. Wie weit hatten Sie die Baath-Ideologie verinnerlicht und wie haben Sie es geschafft, sich davon zu befreien?
Jandali: Um ehrlich zu sein – Sie haben einen professionellen Lügner vor sich. Ich log jeden Morgen. Vormittags liebte ich Baschar, nachmittags hasste ich das System. Man musste in der Schule folgendes sagen: Ich opfere meine Seele und mein Leben für Assad. Jeden Morgen dasselbe. Dann ging man nach Hause und die Eltern sagten: "Nein, Assad ist kein guter Mann!" Das ist schizophren, und man muss damit klar kommen, obwohl man ja noch sehr jung oder sogar noch ein Kind ist. Als ich in die USA ging, habe ich zehn Jahre gebraucht, um meine Seele zu reinigen, um die Wahrheit zu sagen und nicht ständig zu lügen.
Viele berühmte arabische Künstler, wie die libanesische Sängerin Fairuz oder der syrische Sänger Sabah Fakhri haben bislang zur Gewalt des Assad-Regimes geschwiegen. Warum dieses Schweigen, woran liegt das?
Jandali: Es ist widerlich. Das Regime raubt den Menschen – und auch vielen Künstlern – die Fähigkeit, selbst zu denken. Das Assad-Regime hat es geschafft, den Menschen ihre Menschlichkeit zu nehmen, die Freiheit und das Wesentliche der Gefühle, menschliche Gefühle, die wirklich vom Herzen kommen. Aber wer heute nicht auf Seiten der Kinder von Syrien steht, hat kein Herz. Ich nenne diese Art Künstler die "leeren Trommeln", denn sie trommeln nur im Takt der Verbrechen des Diktators.
Meinen Sie, dass Musiker in Deutschland und Europa sich vernehmlicher zur Revolution in Syrien äußern, gar für die Revolution Stellung beziehen sollten?
Jandali: Man muss zwischen den normalen Bürgern und den Regierungen unterscheiden. Das Album "Emessa" (der alte Name der Stadt Homs), das der Revolution in Syrien gewidmet ist, habe ich gemeinsam mit dem Russischen Philharmonischen Orchester aufgenommen. Für mich heißt das, dass die Menschen in Russland zu den Menschen in Syrien halten, nicht zur Regierung. Einige Musiker des Russischen Orchesters haben geweint, als wir das Stück über Ibrahim Al-Qashush aufnahmen. Für mich ist Kunst eine universale Botschaft, es ist die Suche nach Schönheit und Wahrheit.
2011 haben Sie die Al-Qashush-Symphonie komponiert, gewidmet dem Feuerwehrmann und Volkssänger Ibrahim Al Qashush, der in Homs bei Demonstrationen das populäre Lied "Hau' ab, Baschar Al-Assad!" sang. Al-Qashush wurde entführt, gefoltert, ermordet und sein Leichnam verstümmelt. Was weiß man über Al-Qashush? Hat er das Lied wirklich komponiert?
Jandali: Jede Revolution in der Geschichte hat ihre eigene Legende. Die musikalische Legende der syrischen Revolution ist Ibrahim Al-Qashush. Auch wenn er eigentlich ein Feuerwehrmann war, so ist er für mich der erste syrische Künstler, der die Mauer der Angst durchbrochen hat.
Er ebnete anderen Musikern und Künstlern den Weg und er gab den Zündfunken für die kulturelle Revolution. Denn die syrische Revolution betrifft nicht nur politische Freiheiten und Menschenrechte. Sie ist auch eine kulturelle Revolution. Ohne Freiheit keine Kunst, ohne Freiheit kein Fortschritt.
Im Frühjahr 2011 komponierten Sie die Hymne "Ich bin mein Vaterland und mein Vaterland ist Ich". Wenige Wochen später, Ende Juli, wurden ihre Eltern zuhause überfallen. Schergen des Regimes zertrümmerten ihre Wohnung und schlugen die beiden brutal zusammen. Was haben Sie empfunden, als Sie davon erfuhren? Haben Sie einen Moment daran gedacht, keine öffentlichen Statements gegen das Regime mehr abzugeben?
Jandali: Um ehrlich zu sein, es war extrem belastend. Man fühlt sich schuldig, nutzlos und schwach. Es war eine schändliche Tat, meine Mutter zu verprügeln und ihr die Zähne auszuschlagen – und das alles, weil sie an mich damals nicht herankamen.
Ich bin ein US-Bürger, sie konnten mich nicht anrühren. Doch ehrlich gesagt, das Ganze ist auch eine Sache der Ehre. Wenn Freiheit bedeutet, sich gegen eine solche Tyrannei aufzulehnen, dann liebe ich die Freiheit, auch wenn ich vielleicht dafür sterben muss.
Manche Beobachter sind wesentlich nüchterner und meinen, dass es den Menschen in Syrien eher noch schlechter gehen wird, wenn Assad fällt, weil das Land dann sozial und geopolitisch auseinander bricht.
Jandali: Jede Verlängerung der Gewalt macht eine friedliche Lösung schwieriger. Was wir sehen, ist der Niedergang der Menschlichkeit. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Ich glaube, wir können ein neues, besseres Syrien aufbauen. Die Kinder werden uns den Weg weisen. Die Menschen in Syrien haben das Potential, eine schöne Symphonie mit verschiedenen Klangfarben zu werden. Alles was uns fehlt, ist der Takt der Freiheit.
Auf syrischem Boden schauen wir auf eine über zehntausend Jahre alte Zivilisation zurück. Das Alphabet wurde in Syrien erfunden, musikalische Notierungen wurden dort entwickelt, und sogar der Erfinder des Apple-Computers, Steve Jobs. war in gewisser Weise mit Syrien verbunden: Sein biologischer Vater war ein Jandali aus Homs und ein Cousin meines Vaters.
Wir wollen keinen Verbrecher als Staatschef, keinen miesen kleinen Gauner, der uns vorlügt, dass die syrische Zivilisation erst vor 40 Jahren mit der Assad-Diktatur begonnen hat. Lassen Sie es mich anders sagen: Wir haben uns schon befreit. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Baschar Al-Assad hat keine Zukunft. Er ist ein Kriegsverbrecher, der sich für seine Untaten vor dem Internationalen Strafgericht verantworten muss.
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de