Interview mit Mathias Rohe: Kinderehen meist in patriarchalisch geprägten Kulturen
In welchen Ländern oder Kulturen kommt es zu Kinderehen?
Mathias Rohe: Es hängt meistens ab von streng patriarchalisch geprägten Lebensformen in Großfamilienverbänden. Wir finden das nicht nur in bestimmten muslimischen Milieus oder bei Jesiden im Irak, sondern auch bei Roma auf dem Balkan. Im hinduistischen Indien haben wir das Problem genauso, und zwar massiv. Das zeigt, dass es nicht primär die Religion ist, die schuld ist an diesen Dingen, sondern es sind kulturelle patriarchalische Prägungen in Verbindung mit den entsprechenden Lebensverhältnissen. Allerdings finden sich manchmal auch religiöse Stimmen, die das dann noch legitimieren.
Wie groß sind dabei die Faktoren Armut und Bildung?
Rohe: Die sind sehr groß. Das wissen wir etwa von syrischen Flüchtlingen, aber auch schon seit längerem aus Ägypten oder anderen Staaten, in denen reiche, alte Araber sich junge Mädchen holen, die dann zwangsverheiratet werden. Die Familie hofft, dass es denen dann gut geht - aber vor allem, dass sie selber irgendwie über die Runden kommen. Auch die Bildung ist entscheidend: Ich kenne überhaupt keine Minderjährigen-Verheiratungen in gebildeten Milieus.
Ab welchem Alter werden die Kinder verheiratet?
Rohe: Manchmal ist das schon kurz nach der Geburt. Das ist dann aber eher ein symbolischer Akt und wird später bekräftigt. Traditionelles islamisches Familienrecht setzt das Ehe-Mindestalter bei Jungen mit zwölf und bei Mädchen mit neun Jahren an.
Wie sehen diese Ehen in der Regel aus?
Rohe: Die Ehemänner können Anfang 20 sein, die können aber auch Ende 40 sein oder noch älter. Da gibt es die grauenhaftesten Konstellationen. In der Regel wird man davon ausgehen dürfen, dass bei so einer Eheschließung der Mann absolut das Sagen hat und die Frau sich unterzuordnen hat. Das muss nicht immer in Grausamkeit enden, ist aber in jedem Fall eine katastrophale Situation.
In der Mehrzahl der Fälle geht es um Mädchen. Gibt es auch Fälle von Eheschließungen mit minderjährigen Jungen?
Rohe: Bei Jungs sind nicht viele Fälle bekannt. Oft sind es dann beides sehr junge Leute, die man verheiratet hat, etwa um verwandtschaftliche Bindungen zu stärken. Wir wissen auch von Zwangsverheiratungen von jungen Männern, bei denen die Familie befürchtet, dass sie dem eigenen Geschlecht zugetan sein könnten, und die damit auf den - in Anführungszeichen - «rechten Weg» gebracht werden sollen. Deutlich häufiger sind aber junge Mädchen betroffen.
Wie gehen die jungen Ehefrauen mit der deutschen Haltung zu Kinderehen um?
Rohe: Ich kenne den Fall einer 13-Jährigen, die mit elf Jahren verheiratet wurde und ein einjähriges Kind hat. Die will nicht getrennt werden von ihrem Ehemann, der Anfang 20 ist und behauptete, sie sei 17. Oder der Fall vor dem Oberlandesgericht Bamberg: Die junge Frau dort ist 15 und sperrt sich offenbar gegen alle Hilfsmaßnahmen des Jugendamtes in Aschaffenburg. Vielleicht nicht, weil das die große Glücksheirat war, sondern weil diese Menschen für sich keine Option sehen, ein Leben auf eigenen Beinen zu führen.
Was ist also in Deutschland nötig?
Rohe: Wir brauchen Hilfs- und Aufnahmeeinrichtungen und müssen die Menschen informieren über die Gründe, warum wir uns hier für sie interessieren und uns einmischen. Dass wir das nicht tun, um die Leute zu drangsalieren, sondern, um strukturelle Schwächepositionen auszugleichen. Familienregeln - das ist ein Teil des Problems - werden oft als reine Privatsache angesehen, in die sich der Staat nicht einmischt. Und das Problem importieren wir mit diesen Fällen.
Welche Regeln gelten in Deutschland bisher?
Rohe: Wenn das Mädchen jünger als 14 Jahre alt ist, muss das Paar getrennt werden. Denn wenn die sexuellen Beziehungen fortgesetzt werden, ist das nach unserem Strafrecht eine Straftat. Das muss man den Leuten auch klar kommunizieren. In vielen anderen Fällen, in denen die Beteiligten älter als 16 Jahre sind, kommt es auf den Einzelfall an. Wir haben da eine gewisse Flexibilität im Strafrecht, durch die man Rücksicht nehmen will auf Jugendliche, die möglicherweise doch selbstbestimmt und freiwillig zusammen kommen.
Was ist bei dem Thema nötig?
Rohe: Bisher waren es Einzelfälle, in denen man sagen konnte: Das sollen Gerichte entscheiden. Mittlerweile sind aber die Verwaltungen völlig überfordert mit diesen Fällen. Wir brauchen daher dringend klare, leicht handhabbare rechtliche Regeln in Deutschland, die dann im Inland geschlossene Ehen gleichermaßen betreffen. Denn auch hier werden solche Ehen zumindest informell geschlossen. Wir müssen nicht zwingend das Mindestalter auf 18 Jahre anheben, wie von manchen gefordert. Wir könnten beispielsweise sagen, ab 16 geht es – aber eben nur im Einzelfall und nur unter Aufsicht der Jugendbehörden. Und man muss auch auf die Machbarkeit schauen: Es den Menschen verständlich zu machen, ist manchmal hilfreicher als das scharfe Schwert zu sagen, unter 18 ist gar nichts möglich. Denn dann nehme ich diesen jungen Frauen auch die Unterhaltsansprüche gegen den Mann. (dpa)
Das Interview führte Catherine Simon.
Mathias Rohe (56) ist Gründungsdirektor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa. Der Jura-Professor hat zudem den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören schwerpunktmäßig die rechtliche Stellung des Islam in Deutschland und Europa und seine Entwicklung im europäischen Kontext sowie Islamisches Recht. Von 2011 bis 2013 leitete er eine Arbeitsgruppe zum Thema «Paralleljustiz» des Bayerischen Staatsministeriums für Justiz.