Gefahr der politischen Instrumentalisierung
Haben Sie den berüchtigten Trailer zu dem Film "Die Unschuld der Muslime" gesehen? Was halten Sie davon?
Nilüfer Göle: Ja, ich bezweifle jedoch, dass man das wirklich als "Film" bezeichnen kann – wohl eher als ein groteskes Ramsch-Video, das den Hass auf Muslime schüren soll. Wer ist der Autor, wer der Produzent? Wer verbreitete das Video über Youtube, wer übersetzte es ins Arabische?
Andererseits muss man jedoch auch fragen, wer die kriminellen muslimischen Aktivisten waren, welche das libysche Konsulat angriffen und den amerikanischen Botschafter töteten. War die Gewalt Folge der eskalierenden Wut des Mobs oder handelte es sich um ein organisiertes Verbrechen? Es ist wichtig, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Ebenso wie der Film nicht repräsentativ für die Wahrnehmung des Westens vom Islam ist, so kann man die Schuld für die kriminellen Taten, die daraufhin folgten, nicht der Gesamtheit der Muslime zuschieben. Die Auseinandersetzung fördert dennoch die Feindschaft zwischen beiden Seiten, denn sie trifft einen empfindlichen Nerv: die Angst vor der Bedrohung der jeweiligen Werte, sei es nun die Meinungsfreiheit oder die Liebe zum eigenen Propheten. Die politische Ausbeutung oder Instrumentalisierung dieser Werte sollte um jeden Preis vermieden werden.
Die Muslime müssen die gewaltsamen Handlungen, die im Namen des Islam verübt wurden, verurteilen und von ihrer defensiven Haltung ablassen. Dies würde einen wichtigen Schritt für den Demokratisierungsprozess bedeuten und zudem die Rolle des Islam in diesem Prozess weiter festigen.
Die westliche Öffentlichkeit wiederum sollte sich bewusst werden, dass das Prinzip der Meinungsfreiheit für einen Angriff auf den Islam missbraucht werden kann. Zunehmende Islamophobie und das Erstarken rechter Bewegungen im Westen fördern die Stigmatisierung von Muslimen und bedrohen damit auch die europäische Demokratie. Im Interesse ihrer eigenen demokratischen Weiterentwicklung sollten daher beide Seiten interne Kritik zulassen.
Das Magazin "Charlie Hebdo" veröffentlichte kurz nach dem Erscheinen des islamfeindlichen Videos Karikaturen des Propheten Mohammed. Fallen diese Ihrer Meinung nach unter die Meinungsfreiheit oder waren sie eindeutig als Provokation gedacht?
Göle: In der Zeit nach 1968 genoss das Satiremagazin "Charlie Hebdo" in Frankreich Kultstatus, heute jedoch hat es diesen verloren. Es ist nicht länger ein anti-konformistisches Blatt, sondern gehört dem großen Block derer an, die mechanisch und unablässig auf das Recht der freien Meinungsäußerung pochen. Ich denke, die Veröffentlichung der Karikaturen war für "Charlie Hebdo" eher ein kommerzieller Zug, als einer, der zum kritischen Nachdenken anregen sollte.
Fehlt es einem Magazin, das diese Art Karikaturen veröffentlicht, nicht an Verantwortungsbewusstsein? Grenz es nicht an "säkularem Fanatismus", wenn man der Welt – insbesondere der muslimischen – unbedingt zeigen muss, dass man auch in der Lage ist, die Religion ins Lächerliche zu ziehen?
Göle: Ich stimme Ihnen zu, dass es eine Art säkularen Fanatismus gibt, der die säkulare Aufgeklärtheit ersetzt hat. Seinen Glanz verdankte der Westen in der Vergangenheit seinem Vermögen, Freiheit mit wissenschaftlicher, intellektueller und ästhetischer Kreativität zu vereinen. Es waren Meinungs- und Gedankenfreiheit, die die demokratische Debatte in der Öffentlichkeit am Laufen hielten.
Die heutige globalisierte Öffentlichkeit verliert zunehmend den Bezug zur rationalen Argumentation, zur Wahrheitssuche und zu ästhetischen Kriterien. "Meinungsfreiheit" bedeutet heutzutage eine Ermächtigung für jedermann, mit seinen innersten Gefühlen und Gedanken, seien sie positiv oder negativ, ohne jegliche Reflexion herauszuplatzen.
Diese direkte und plumpe Art der Demokratie bedeutet einen Rückschritt gegenüber früheren aufgeklärten Haltungen. Sowohl die westliche als auch die muslimische Welt müssen sich dessen bewusst werden.
Wieso hat die öffentliche Meinung in Ägypten und anderen arabischen Ländern nicht ihre Stimme erhoben um klar zu stellen, dass dieser Film völlig nichtig und irrelevant für die Gesellschaft ist?
Göle: Viele Muslime verurteilen sowohl das Video als auch die gewaltsamen Reaktionen darauf. Der Mufti von Ägypten erinnerte an das Verhalten des Propheten, welcher still jede Beleidigung und jeden Angriff erduldet hatte und riet allen Muslimen, ihn sich zum Vorbild zu nehmen. Der bekannte islamische Intellektuelle Tariq Ramadan forderte die Muslime auf, ihren Verstand zu benutzen und – trotz verletzter Gefühle – über dem plumpen Angriff zu stehen. Solch islamophobischen Handlungen könne man nur mit Indifferenz begegnen, meinte er.
Der Präsident der Großen Pariser Moschee, Dalil Boubakeur, verlangte von französischen Muslimen ein gutes Maß an Selbstkontrolle und Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit. Der türkische Premier Minister Tayyip Erdogan hingegen schloss sich jenen an, die anti-islamische Handlungen dem Bereich des internationalen Rechts zuordneten und kündigte an, die Vereinten Nationen davon zu überzeugen, Islamophobie künftig als Hass-Bezeugung zu ahnden.
Neben den aufgetretenen gewalttätigen Reaktionen gibt es unter Muslimen also durchaus verschiedene Ansätze, mit solchen Provokationen friedlich und intelligent umzugehen. Dies zeigt, dass es trotz allem doch zu einer gegenseitigen Durchdringung beider Welten und zu einem Gewöhnungsprozess an die religiösen oder ethischen Werte des jeweils anderen kommt – wenngleich dies nicht ohne Konfrontation geschieht.
Interview: Alessandro Lanni
© Reset Doc 2012
Die gebürtige Türkin Nilüfer Göle unterrichtet Soziologie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales.
Aus dem Englischen von Laura Overmeyer
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de