''Die tunesische Revolution hatte keinen religiösen Charakter''
Herr Ben Achour, nach der Revolution gegen Ex-Diktator Ben Ali wurden Sie als Verfassungsrechtler mit der schwierigen Aufgabe betraut, die Weichen für einen demokratischen Übergang in Tunesien zu stellen. Was haben Sie erreicht?
Yadh Ben Achour: Vieles. Wir haben zum Beispiel ein Parteiengesetz ausgearbeitet, das auf Pluralismus und Geschlechterparität basiert. Wir haben eine unabhängige Wahlkommission gegründet, um freie und faire Wahlen zu gewährleisten. Außerdem wurden Gesetze zum Schutz der Pressefreiheit verabschiedet, basierend auf den Prinzipien des demokratischen Pluralismus.
Das ist fast zwei Jahre her. Wurden auch die politischen Ziele der "Jasminrevolution" erreicht?
Ben Achour: Die Revolution ist ein langwieriger Prozess, man braucht viel Zeit und Geduld. Dennoch meine ich, dass wir wichtige Ziele erreicht haben: Pluralismus, einen Rechtsstaat, demokratische Prinzipien, freie und faire Wahlen - und ein offenen Dialog zwischen allen politischen Parteien und Akteuren. Allerdings ist dies nur ein Bruchteil einer großen Veränderungsagenda. Deren Umsetzung wird noch Jahrzehnte dauern.
Ihr Amt endete im Oktober 2011 mit den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung. Wahlsieger war die islamisch-konservative Ennahda-Partei, die andere politische Zielsetzungen verfolgt. Sie haben dieser Versammlung dennoch gemeinsam mit anderen Juristen einen Verfassungsentwurf vorgelegt. Wie waren die Reaktionen?
Ben Achour: Die Reaktionen auf unseren Verfassungsentwurf waren leider sehr zurückhaltend. Dabei handelte es sich um einen sehr fortschrittlichen Entwurf, fortschrittlicher als die Vorstellungen der meisten Abgeordneten in der Versammlung, die von den Konservativen dominiert wird. So haben wir vorgeschlagen, die Todesstrafe abzuschaffen und dem Entwurf eine Erklärung beigefügt, die sich an den universellen Menschenrechtsprinzipien orientiert. Allerdings verfolgt die Verfassungsgebende Versammlung eine sogenannte 'Politik des weißen Blattes'. Das heißt, dass sie keine Vorschläge externer Experten berücksichtigt, sondern sich nur auf ihre eigenen Experten beruft. Ich halte diese Einstellung für falsch.
Es gibt in Tunesien heftige Diskussion über den Stellenwert des Islam im politischen System. In Ihrem Verfassungsentwurf kommt dieser Punkt gar nicht vor.
Ben Achour: Das stimmt, denn das Augenmerk unseres Verfassungsentwurfs gilt den freiheitlichen Prinzipien und dem Schutz der Menschenrechte - denn genau das waren die Forderungen der Revolution. Die tunesische Revolution hat nie gefordert, die islamische Rechtssprechung Scharia als Grundlage der staatlichen Gesetzgebung einzuführen. Und die tunesische Revolution hatte auch niemals einen religiösen Charakter.
Sie sind Enkel eines bekannten tunesischen Islamgelehrten - und dennoch gegen eine Verfassung auf Grundlage der Scharia. Ein Widerspruch?
Ben Achour: Nein, überhaupt nicht! Es herrscht doch große Uneinigkeit über Definition und Inhalt der Scharia. Betrachten wir es aus politischer Perspektive, dann wäre es schlichtweg unvertretbar, bestimmte Scharia-Regeln einzuführen, wie zum Beispiel die Todesstrafe oder Steinigungen. Das widerspricht dem modernen Menschenrechtsbegriff. Ich hätte aber kein Problem damit, wenn die Scharia als moralische Referenz herangezogen würde.
Was meinen Sie genau mit "moralischer Referenz"?
Ben Achour: Ich meine damit, dass der Islam eine Religion der Toleranz und Freiheit ist. Er garantiert den religiösen Minderheiten Religionsfreiheit und dem Menschen an sich persönliche Freiheit. Leider gibt es aber Leute, die an starren, veralteten Regeln festhalten.
Kritiker werfen Ihnen "Laizismus" vor - in der arabischen Welt ein eher negativ besetzter Begriff. Einige unterstellen Ihnen sogar eine anti-islamische Haltung.
Ben Achour: Ich bin kein Anhänger des Laizismus. Ich habe nie dafür plädiert, den Laizismus als Grundlage für das politische System in Tunesien einzuführen. Ich fordere auch nicht die Trennung zwischen Staat und Religion. Ich lehne es allerdings vehement ab, dass eine politische Partei im Namen des Islam Politik betreibt. Wenn die Grenzen zwischen dem Politischen und dem Religiösen verschwimmen und die Gewalteneinteilung im Namen der Religion ausgehebelt wird, dann könnte daraus die schlimmste Diktatur entstehen.
Eine schleichende Re-Islamisierung der tunesischen Gesellschaft hatte es bereits unter Ben Ali gegeben. Im Zuge der Revolution erleben wir nun sogar das Erstarken radikaler Strömungen wie der Salafisten. Eine besorgniserregende Entwicklung?
Ben Achour: Ja, vor allem wenn sie von Gewalt begleitet wird. Grundsätzlich ist jeder frei in seinen politischen und religiösen Überzeugungen, auch die Salafisten. Meinungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut! Die Salafisten haben inzwischen ja auch ihre eigene Partei. Einige salafistische Gruppen schrecken jedoch leider nicht vor Gewalt zurück. Und ich finde es sehr besorgniserregend, dass die Regierung nicht konsequent genug dagegen durchgreift. Wenn wir zulassen, dass im Namen Gottes Gewalt angewendet wird, gefährdet das unsere Demokratie und macht die Errungenschaften unserer Revolution zunichte.
Das klingt nicht gerade nach einem positiven Zukunftsszenario...
Ben Achour: Niemand kann die Zukunft voraussehen. Tunesien steckt in einer schwierigen Phase voller Gegensätze, Entgleisungen und Abweichungen von den ursprünglichen Forderungen der Revolution. Wir müssen uns vor diesen Bedrohungen schützen und unseren Kampf fortsetzen für ein freies Land, das den Zielen seiner Revolution treu bleibt.
Interview: Chamselassil Ayari
© Deutsche Welle 2012
Yadh Ben Achour, geboren 1945, ist tunesischer Jurist und Verfassungsrechtler. Von März bis Oktober 2011 war er Vorsitzender der "Hohen Kommission zur Verwirklichung der Ziele der Revolution, der politischen Reform und des demokratischen Übergangs". Am 6. September 2012 wurde Yad Ben Achour mit dem Internationalen Demokratiepreis Bonn ausgezeichnet.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de