Für ein neues Selbstbewusstsein der syrischen Frau
Weshalb haben Sie ein syrisches Frauenmagazin gegründet?
Yasmine Merei: Als die Revolution in Syrien begann, gab es nur ein Magazin für Frauen, das religiös motiviert war. Wir wollten aber allen Frauen Syriens eine Stimme geben. Mohammad Malaki, der Vorsteher des Mediencenters "Smart for Media" entwarf als Erster das Konzept für "Saiedet Souria" – ein Magazin, das das Bewusstsein von Frauen für Politik, Gesellschaft und Gerechtigkeit stärken will, indem Frauen über und für Frauen schreiben.
Welche Bedeutung hat der Titel des Magazins "Saiedet Souria"?
Merei: Lange Zeit wurde nur von einer Frau als "Die Frau Syriens" gesprochen: Asma al-Assad, die Präsidentengattin. Sie wurde zur weiblichen Ikone der syrischen Gesellschaft erhoben. Das wollten wir nicht länger so stehen lassen. Denn wir alle sind "Saiedet Souria" – Frauen Syriens. Es ist wichtig, dass wir endlich als zentraler Teil der syrischen Gesellschaft wahrgenommen werden und uns auch selbst als ein solcher begreifen.
Welche gesellschaftspolitische Rolle spielen die Frauen in dem seit über drei Jahre andauernden Bürgerkrieg in Syrien?
Merei: Jeden Tag begraben syrische Frauen ihre Söhne, Brüder und Ehemänner, egal ob sie nun für oder gegen das Regime gekämpft haben. Sie verlieren fast alles und müssen doch weiter für ihre Familien sorgen. Das macht sie unglaublich stark. Sie sind der einzige Teil der Gesellschaft, der Syrien den Frieden bringen kann.
Und wie wollen sie das erreichen?
Merei: Wir möchten das Wissen der Frauen über die politischen Entwicklungen in Syrien erweitern. Gerade mal fünf Frauen sind im syrischen Nationalrat im türkischen Exil vertreten. Damit mehr Frauen den Schritt in die Politik und in andere einflussreiche Ämter wagen, müssen wir sie mit dem nötigen Handwerkszeug ausrüsten. Daher publizieren wir Artikel, die verschiedene Schwerpunkte im Bereich Politik, Wirtschaft oder Menschenrechte setzen.
"Saiedet Souria" wird derzeit ausschließlich in der Türkei produziert. Gibt es auch innerhalb Syriens Redaktionsbüros?
Merei: Bisher noch nicht. Wir planen Außenstellen in den befreiten Zonen der Freien Syrischen Armee um Damaskus, in Daraa und Aleppo. Dort verteilen wir das Magazin auch. Wir wollen mit den Menschen vor Ort in Kontakt bleiben, damit wir genau Bescheid wissen, was innerhalb Syriens vor sich geht.
Wer schreibt für "Saiedet Souria"?
Merei: Für uns sind insgesamt rund 50 Journalisten tätig, die meisten von ihnen stammen aus Syrien und dem Libanon. Wir versuchen zudem viele Expertenmeinungen zu verschiedenen Themen einzuholen. Die meisten von uns beschäftigten Journalisten verfügen über fundierte Kenntnisse in den Themengebieten Rechtsprechung, Psychologie oder Soziologie. Wir kooperieren außerdem mit bedeutenden syrischen Frauenaktivistinnen, wie etwa der Politikerin Basma Qadamani. Wir veröffentlichen aber auch Artikel von Männern, die sich für Frauenrechte einsetzen. Das ist uns sehr wichtig. Denn wenn ein Mann über Frauenrechte schreibt, erreicht das mehr männlichen Leser.
Basma Qadamani ist ehemaliges Mitglied des syrischen Nationalrates. Bedeutet dies, dass sich "Saiedet Souria" als Magazin im Sinne der syrischen Revolution versteht?
Merei: Ich glaube, wir können einen Krieg nicht mehr Revolution nennen. Aber wir wünschten, es wäre noch eine Revolution. Wir sind gegen die Gewalt des Regimes und der islamistischen Gruppierungen. Aber "Saiedet Souria" setzt sich in erster Linie für alle Frauen Syriens ein, egal ob sie sich für oder gegen das Regime aussprechen.
Welchen Stellenwert nahm die Frau in der syrischen Gesellschaft vor dem Umbruch im Jahr 2011 ein?
Merei: Das war von Region zu Region verschieden. In den Städten konnten Frauen ein Studium aufnehmen und anschließend arbeiten. Trotzdem gab es familiäre Machtstrukturen, die sie nicht durchbrechen konnten. Der Vater – oder später der Ehemann – hatte in vielen Belangen das Sagen. Sie genossen daher also nur einen Fingerhut voll Freiheiten, aber keine wirkliche Autonomie darüber, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. In den Dörfern verfügte der Großteil der Frauen ohnehin kaum über ein Minimum an Selbstbestimmung.
Sie haben mit vielen Frauen gesprochen, die über die Grenze von Syrien in die Türkei geflohen sind. Wie sieht ihre Realität heute in den Flüchtlingslagern aus?
Merei: Die Frauen haben es schwer in den Lagern. Viele sind ohne ihre Männer gekommen, weil diese entweder tot, im Gefängnis oder noch als Kämpfer in der Freien Syrischen Armee sind. Die Männer, die es in die türkischen Lager geschafft haben, suchen nicht nach Arbeit, sondern warten lieber auf Hilfen von Menschenrechtsorganisationen. Sie dominieren die Frauen im Lager. Und viele Mädchen unter 16 Jahren heiraten in der Regel einen von diesen Männern, weil sie glauben, dass für sie dann ein besseres Leben beginnt – ein Trugschluss. Darüber hinaus verlieren viele Frauen, die einst studiert haben oder eine Arbeit hatten, ihre Motivation. Denn sie sind nun von Frauen umgeben, die sehr traditionell denken.
Aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer leiden unter den Auswirkungen des Syrienkrieges. Wäre es nicht effektiver, Frauen- und Männerthemen gleichermaßen anzusprechen, damit beide Seiten ein besseres Verständnis füreinander entwickeln?
Merei: Bisher haben wir bestimmten "Männerthemen" keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt – mit Ausnahme eines Artikels, der die psychologische Hilfe ehemaliger Kämpfer zum Inhalt hat. Männer haben immer noch mehr Rechte als Frauen und können sich viel leichter politisch engagieren. Wir sind uns sicher, dass die Männer nach dem Ende des Konfliktes erneut versuchen werden, die gebildeten Frauen aus der Politik zu drängen. Wir wollen daher die Frauen in ihren Bemühungen unterstützen, ihren bereits gewonnenen gesellschaftlichen Status sowie ihre bereits errungenen Freiheiten zu festigen.
Interview: Juliane Metzker
© Qantara.de 2014