Putin stets zu Diensten?
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar stellt einen Wendepunkt in der Geschichte des Kontinents nach dem Kalten Krieg dar. Der Konflikt stellt Länder in ganz Eurasien und darüber hinaus vor erhebliche sicherheitspolitische Herausforderungen und hat zu unerwarteten Veränderungen in den seit langem etablierten Paradigmen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Autokratien geführt, wie der Fall Deutschlands zeigt. Auch der Iran ist keineswegs immun gegen die geopolitischen Veränderungen, die derzeit stattfinden.
Vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine schienen die Atomverhandlungen mit dem Iran nach fast einjährigem diplomatischen Hin und Her in Wien kurz vor einer Wiederbelebung des Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplans (JCPOA, auf English), dem Atomabkommen von 2015, zu stehen. Die Invasion, die viele im Westen überraschte, führte zunächst dazu, dass Teheran und Moskau ihre Positionen scheinbar veränderten, was zu einer weit verbreiteten Unsicherheit über die Gespräche und sogar zu Befürchtungen über deren Scheitern führte. Seit Ende März scheinen die Atom-Gespräche jedoch wieder Kurs auf eine Einigung zu nehmen, und es wird erwartet, dass es bald zu einem Ergebnis kommt.
Über das JCPOA hinaus hat der neue Kalte Krieg, in dem sich Wladimir Putins Russland und das transatlantische Bündnis gegenüberstehen, auch im Iran die Debatten über die Folgen für die Stellung des Landes in der Weltordnung neu belebt. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, den innenpolitischen Diskurs des Iran über seinen mächtigen russischen Partner - manche würden sagen, seinen obersten Befehlsherren - und dessen Beziehung zur Führung in Teheran zu analysieren.
Teherans geopolitische Hoffnungen
Die offizielle Reaktion der Islamischen Republik auf die russische Invasion, sowohl in den staatlichen Medien als auch in offiziellen Kreisen, spiegelt die Kriegspropaganda Moskaus wider. Gleichzeitig wurden Lippenbekenntnisse zur "Wahrung der territorialen Integrität und nationalen Souveränität aller Länder" (in den Worten von Präsident Ebrahim Raisi) abgegeben. In der Regel wurde die Invasion als russische "Sonderoperation" bezeichnet, ausgelöst durch die expansive Osterweiterung des von den USA angeführten NATO-Bündnisses.
In dieser Sicht will Russland lediglich angesichts des jahrzehntelangen, destabilisierenden westlichen Expansionismus seine eigene Sicherheit gewährleisten.
Diese Sichtweise wird von den wichtigsten iranischen Medien (die mit dem Staat und den Revolutionsgarden verbunden sind) und von seinen staatlichen Repräsentanten (darunter dem Obersten Führer, dem Präsidenten, dem Geheimdienstminister und dem Teheraner Imam für das Freitagsgebet) vertreten. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine sei ein notwendiger Akt des Widerstands gegen die Aggression des Westens und der NATO, so dass die Schuld an der gegenwärtigen Eskalation eindeutig bei letzteren liege. Indem sie Russland in Schutz nehmen, rechtfertigen diese Stellungnahmen implizit Irans eigene offensive regionale Politik, die als "Vorwärtsverteidigung" bekannt ist und die Teheran ebenfalls gerne als legitime Reaktion auf den destabilisierenden US-Expansionismus in der Region darstellt.
Aus Sicht dieser Elite entspricht Russlands Vorgehen gegen die Ukraine den Interessen Teherans und überschneidet sich mit der großen iranischen Strategie der Konfrontation mit den USA und dem Streben nach Macht und Einfluss im Nahen Osten und darüber hinaus. Das Zögern des Westens, in der Ukraine militärisch zu intervenieren, wird als deutliches Zeichen für den Niedergang der USA gesehen. Das Image von Amerikas militärischer Stärke wurde bereits durch das Fiasko des Afghanistan-Abzugs im letzten Herbst und anderen Schlamassel in Westasien untergraben, bei dem die USA und ihre Verbündeten es nicht geschafft haben, mit dem Iran verbündete Gruppen zu besiegen.
Alles in allem haben die politischen Misserfolge der letzten Zeit dazu geführt, dass Washington seinen Status als Supermacht in den internationalen Beziehungen verloren hat.
Moskaus neokoloniale Einflussnahme
Die kremlfreundliche Sichtweise der Islamischen Republik ist jedoch nicht unangefochten geblieben. Selbst bei einigen großen Medien, vor allem aber in der iranischen Gesellschaft, sind erhebliche Risse entstanden. Diejenigen, die versuchen, eine Gegenerzählung zu verbreiten, stehen jedoch vor gewaltigen Hindernissen.
Nachdem die russische Botschaft in Teheran einen Bericht der Nachrichtenagentur Tasnim - die merkwürdigerweise mit den pro-russischen Revolutionsgarden verbunden ist - als "Fake News" verurteilt hatte, weil er Putins Operation in der Ukraine als "Invasion" bezeichnete, wurde der Bericht offline genommen und durch einen anderen ersetzt, der sich eng an den offiziellen Wortlaut des Kreml anlehnt.
In einem anderen Fall geißelte die Botschaft eine reformorientierte iranische Tageszeitung, die Russland kritisierte, es drohe, die JCPOA-Verhandlungen zu gefährden. Später, am 9. März, hielt der russische Botschafter in Teheran eine Pressekonferenz ab, auf der er die iranischen Medien aufforderte, in ihrer Berichterstattung auf die Begriffe "Krieg" oder "Invasion" zu verzichten - eine eklatante Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Iran, die für Empörung im Land sorgte.
Diese Beispiele für russische Einmischung erinnern an ähnliche Interventionen der chinesischen Botschaft im Iran gegen unvorteilhafte Medienberichte und offizielle Erklärungen, zuletzt über Chinas angebliche Stationierung von Sicherheitskräften zum Schutz seiner Investitionen im Land. Bereits im ersten Jahr der Pandemie war die chinesische Botschaft eingeschritten, um Skeptiker der offiziellen COVID-19-Statistiken Pekings zum Schweigen zu bringen.
Diese Einmischung durch die Botschaften Russlands und Chinas in die inneren Angelegenheiten des Iran spiegelt den Charakter der Beziehungen Teherans zu beiden Ländern, von denen die gesamte geopolitische Strategie von Irans "Blick nach Osten" abhängt. Ein eklatantes Machtgefälle zwischen Iran und seinen Verbündeten führt zu chronischer iranischer Schwäche und Abhängigkeit. Das Schreckgespenst eines neofeudalen Arrangements kommt auf, bei dem die Teheraner Führung dem Diktat ihrer Herren in Moskau und Peking folgen muss. Russlands neuer Paria-Status könnte jedoch Irans Stellenwert in den bilateralen Beziehungen verbessern, allerdings nur, wenn Teheran seine Karten sorgfältig ausspielt und nicht einfach Putins Launen folgt.
Im Kern zielt die iranische "Blick nach Osten"-Politik nicht nur auf wirtschaftliche Entwicklung und politische Unterstützung gegen den Druck des Westens ab, sondern auf das Überleben eines Regimes, dessen Rückhalt im eigenen Land schwindet. Moskau und Peking halten dieses schwankende Regime von außen aufrecht. So kommt es, dass die Islamische Republik nicht nur ZUgeständniss an russische oder chinesische Interessen macht, sondern manchmal sogar versucht, ihren offensichtlichen Wünschen schon zuvorzukommen.
Die Befürchtungen angesichts des bereits unterzeichneten 25-jährigen umfassenden Kooperationsabkommen zwischen Iran und China werden jetzt beim geplanten auf 20 Jahre angelegten Abkommen mit Russland wieder wach. Beiden langfristigen Abkommen, die als "strategisch" gelten, mangelt es an Transparenz, was im Iran zu wilden Spekulationen geführt hat. Es gibt zahlreiche Theorien, wonach die Führung der Islamischen Republik das Land sogar verkaufe, um in einer Situation beispiellosen innen- und außenpolitischen Drucks ihre eigene Macht mit Hilfe dieser beiden nicht-westlichen Großmächte und ihres Vetorechts im UN-Sicherheitsrat zu festigen.
Als Kernstück des Abkommens mit Russland, das nach Angaben des iranischen Außenministeriums vom Dezember letzten Jahres "fast unterschriftsreif" ist, wird Moskau Berichten zufolge Teherans Interessen im UN-Sicherheitsrat und im Rahmen der Atomverhandlungen schützen und dem Land hoch entwickelte militärische Ausrüstung (wie das S-400-Raketenabwehrsystem und Sukhoi Su-35-Kampfjets) zur Verfügung stellen. Im Gegenzug erhält Russland dann günstige Konditionen beim Zugang zu iranischen Öl- und Gasfeldern. Zeitgleich mit diesem Abkommen wurde im letzten Herbst ein weiterer Vertrag zwischen den beiden Ländern bekannt, der russischen Unternehmen den größten Anteil am kürzlich entdeckten riesigen Chalous-Gasfeld im iranischen Gebiet am Kaspischen Meer einräumt (gefolgt von chinesischen Unternehmen und erst dann von iranischen Unternehmen, genauer gesagt von solchen, die mit den Revolutionsgarden verbunden sind).
Für Russland war der Iran ein echter Trumpf, der es ihm ermöglicht hat, die "iranische Bedrohung" gegenüber dem Westen auszuspielen und gleichzeitig wirtschaftlich von den Beziehungen zu Teheran zu profitieren, einschließlich der Wiederbelebung seiner Atomindustrie durch seine besondere Rolle beim iranischen Atomprogramm. Wenn der Iran also seine Beziehungen zum Westen normalisiert, würde dies den Einfluss Russlands wahrscheinlich stark beschränken. Mit anderen Worten: Ein westlich orientierter Iran würde für Moskaus Interessen eine größere Bedrohung darstellen als ein Iran, der über die Atombombe verfügt.
Die Bedenken der iranischen Gesellschaft
Die Art und die möglichen Auswirkungen der Beziehungen des Iran zu Russland werden in der iranischen Gesellschaft heftig debattiert. Die iranischen Ängste rühren von der Ungleichheit der bilateralen Beziehungen und der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen den nationalen Interessen und den Interessen des Regimes gegenüber Russland - oder auch China.
Die Bedenken der Gesellschaft gegenüber Russland wurzeln sowohl in der Geschichte als auch in der geopolitischen Realität. Die bittere Erinnerung an die Bombardierung des iranischen Parlaments im Jahr 1908 durch die von Russland angeführte persische Kosakenbrigade, mit der die konstitutionelle Revolution torpediert werden sollte, sowie an die anglo-sowjetische Invasion im Jahr 1941 bleibt im kollektiven Bewusstsein und erinnert an die Bereitschaft des Kreml, den Iran mit Füßen zu trenen, wenn es um eigene Interessen geht.
Darüber hinaus betrachten Teile der außenpolitischen Elite im Iran Russland im Dauerkonflikt zwischen dem Iran und dem Westen als unberechenbar. Für sie ist Moskau ein opportunistischer Akteur, der ausschließlich seine eigenen Ziele verfolgt. Das sehen führende Kreise so, selbst wenn dies bedeutet, der offiziellen Rhetorik, die die USA und den Westen anprangert, zu widersprechen. Das gilt auch angesichts der russischen Neigung, den Konflikt Irans mit dem Westen am Leben zu erhalten, um seine Position in diesem konfliktreichen Dreiecksverhältnis zu maximieren. Unter anderem wird Russland beschuldigt, Waffenlieferverträge zu brechen, den JCPOA-Prozess zu sabotieren und enge Beziehungen zu regionalen Feinden des Iran (Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien) zu unterhalten.
Darüber hinaus gibt es in der Gesellschaft auch weitreichende Bedenken hinsichtlich des langfristigen Bündnisses, das das iranische Regime mit den gleichgesinnten Autokratien Russland und China zu schmieden hofft. Die Anti-Kriegs-Proteste vor der ukrainischen Botschaft in Teheran, die zwar nur spärlich besucht waren, aber von Sprechchören wie "marg bar Putin" ("Tod für Putin") begleitet wurden, verdeutlichen die antirussische Stimmung. Solche Vorbehalte gegenüber Russland gelten auch für China. Dennoch gibt es keinen organisierten Widerstand gegen die Vertiefung der Beziehungen des Regimes zu beiden Ländern.
Die Interessen des Regimes und die der iranischen Gesellschaft gegenüber Russland stehen im Widerspruch. Während das Regime Russland als beeindruckenden militärischen Sicherheitsgaranten für seine Stabilität und sein Überleben betrachtet, sieht die iranische Gesellschaft in dieser Unterstützung eine drohende Gefahr für demokratische Bestrebungen. Die pro-demokratischen Iraner befürchten, dass Moskau den Repressionsapparat ihres Landes verstärken und möglicherweise sogar sein Militär einsetzen könnte, falls die Proteste der Bevölkerung das Regime gefährden würden - wie in Syrien und Kasachstan zu beobachten war.
Die Beziehung zwischen dem russischen und dem iranischen Regime wird auch durch ihre Parallelen intensiviert: Bei beiden handelt es sich um Öl-Staaten mit einer Elite, die in mafiösem Stil regiert, an deren Spitze allmächtige Autokraten stehen, die sich nicht scheuen, mit harter Hand durchzugreifen, und die sich von ihrer Nostalgie nach den glorreichen Tagen vergangener Imperien leiten lassen.
© Middle East Institute 2022
Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Associate Fellow und Autor des Kurzberichts "Iran in Focus" am Issam Fares Institute for Public Policy & International Affairs (IFI) an der American University of Beirut (AUB). Er ist auch der Autor von "ran in an Emerging New World Order: From Ahmadinejad to Rouhani" (2021) und Initiator und Co-Moderator des Berlin Mideast Podcast (Konrad-Adenauer-Stiftung). Er ist Mitarbeiter des Zentrums für Nahost- und Nordafrikapolitik der Freien Universität (FU) in Berlin und des Centre d'Etudes de la Coopération Internationale et du Développement (CECID) an der Université libre de Bruxelles (ULB). Sie können ihm auf Twitter folgen.