Eine Nation im Widerspruch
Aserbaidschan versucht seit Jahren, Touristen anzulocken: Mit dem "Eurovision Song Contest", den Europaspielen, der Formel Eins und anderen prestigeträchtigen Veranstaltungen in Baku. So will das vom Ölreichtum abhängige Land neue und rohstoffunabhängige Einkommensquellen erschließen. Doch die langersehnten Touristen blieben aus.
Bis zum vergangenen Sommer. Plötzlich strömten Touristen ins Land – wenn auch nicht die von Aserbaidschan erhofften. Anstelle westlicher Touristen mit Rucksäcken und Wanderkarten, die in Shorts und T-Shirts durch die Straßen schlendern, kamen geführte Gruppen mit Hundertschaften muslimischer Familien aus arabischen Ländern. So gewaltig war der Zustrom, dass Geschäfte und Einkaufszentren in Baku Schilder mit "Willkommen!", "Geöffnet" und "Verkauf" auf Arabisch aushängten.
Ein Toleranztest
Aserbaidschan legt Wert auf seinen Ruf als multikulturelles und tolerantes Land. Doch die plötzliche Konvergenz unterschiedlicher Kulturen erweist sich als komplexes Problem, das auch diejenigen herausfordert, die sich für ihre Offenheit rühmen. Diskussionen in den sozialen Medien thematisieren eingehend die kulturellen Differenzen zwischen den arabischen muslimischen Touristen und den muslimischen Aserbaidschanern.
Plötzlich stand das Denkmal der "Befreiten Frau" in Baku wieder auf der Agenda. Errichtet wurde es zur Sowjetzeit zu Ehren der Aserbaidschaner im Kampf gegen den Tschador als Symbol der feudalen Unterdrückung und sozialen Ungleichheit.
"Baku ist die einzige muslimische Stadt weltweit, in der einer Frau ein Denkmal errichtet wurde, die ihren Tschador wegwirft. Jeder sollte die Bedeutung dieses Denkmals kennen. Für mich ist es ein Schlüsselsymbol unseres Landes. Aber eines, das sprichwörtlich nicht in Stein gemeißelt ist. Daher sollten wir Pilgerreisen dorthin unternehmen und dessen historische Bedeutung würdigen", schrieb der aserbaidschanische Dichter Rasim Garaja in einem der vielen Diskussionsbeiträge über arabische Touristen in Baku.
Während der sommerliche Touristenstrom unvermindert ins Land floss, gab es einen lebhaften Diskurs über die Unterschiede zwischen Aserbaidschan und anderen muslimischen Ländern sowie über dessen Säkularisierungsgeschichte: Noch vor einem Jahrhundert war es aserbaidschanischen Frauen verboten, auf der Bühne des damals neu eröffneten Theaters in Baku zu spielen: Alle weiblichen Rollen wurden stets mit Männern besetzt. In der modernen muslimischen Gesellschaft Aserbaidschans gilt auch für Mädchen die allgemeine Schulpflicht und selbstverständlich haben auch Frauen Zugang zu einer Karriere in Theater, Oper, Ballett und anderen Kulturbetrieben.
Aserbaidschan "aus der dunklen muslimischen Welt" herauslösen
Die Dinge hätten ganz anders laufen können. Vor allem dank der aserbaidschanischen "Aufklärung", die Schriftsteller im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich voranbrachten, wurde Aserbaidschan zum ersten muslimischen Land, das Frauen 1919 das Wahlrecht zugestand – also etwa zur gleichen Zeit wie in Deutschland, im Vereinigten Königreich und in den USA.
Daraus schließen viele Menschen, dass die "Literatur das aserbaidschanische Volk beeinflusst, geprägt und weitergebracht hat", so wie es einer der Diskussionsteilnehmer formulierte. "Wir alle sollten den Schriftstellern und Dichtern dankbar sein, den 'Voltaires aus Aserbaidschan', die sich im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts für ein modernes säkulares Land einsetzten, das unter den muslimischen Ländern seinesgleichen sucht."
Aserbaidschanische Schriftsteller und Dramatiker, wie M. F. Akhundov (1812-1878), Jalil Mammadguluzade (1869-1932), M. A. Sabir (1862-1911), A. Hagverdijev (1870-1933), J. Jabbarli (1899-1934) und Y. V. Chamanzaminli (1887-1943), versuchten nach eigenen Worten "Aserbaidschan aus der dunklen muslimischen Welt herauszulösen". Sie gingen hart mit der Ignoranz der Bevölkerung, der Unterdrückung der Frauen und der Kinderarbeit ins Gericht. Analphabetentum war in ihren Augen ein Unglück und Bildung eine Überlebensnotwendigkeit. Sie appellierten an Aserbaidschan, sich der westlichen Kultur zuzuwenden.
Unter den zahlreichen Publikationen erschien 1907 bis 1918 auch "Molla Nasreddin", eine Satirezeitschrift, die sich einer breiten Leserschaft in der muslimischen Welt von Marokko bis zum Iran erfreute. "Molla Nasreddin" entlarvte die Heuchelei muslimischer Geistlicher und trat für die Verwestlichung ein, für eine Schulreform und für die Gleichstellung der Frauen.
Die Veröffentlichung klar antiklerikaler und antireligiöser Inhalte in einem muslimischen Land war Anfang des 20. Jahrhunderts mit nicht unerheblichen Risiken für die Redaktion der Zeitschrift verbunden. Die Autoren wurden oft verfolgt, ihre Büros angegriffen und mehrmals musste der Herausgeber Jalil Mammadguluzade vor wütenden Demonstranten fliehen.
Als Aserbaidschan 1920 zum Teilstaat der Sowjetunion wurde, waren bereits einige Schriftsteller und Dichter dieser Generation tot. Wer noch lebte, war froh, dass Aserbaidschan die Verbindung zur muslimischen Welt gekappt hatte. Doch gleichzeitig verurteilte man den russischen Expansionsdrang. Das geflügelte Wort von Jalil Mammadguluzade, "Wir sprechen Russisch mit unseren Landsleuten, aber arabisch mit unseren Toten" ist in Aserbaidschan heute noch sehr populär.
Ein kontroverses Vermächtnis
Bis vor Kurzem hatten die Namen dieser Dichter und Schriftsteller in Aserbaidschan mehr Gewicht als dessen autoritäre politische Führer. Ihre Jubiläen wurden in den heiligen Hallen des Landes begangen, ihre Bücher massenweise veröffentlicht, ihre Stücke seit Jahrzehnten in den staatlichen Theatern aufgeführt und ihre Arbeiten dominierten die Lehrpläne der Schulen. Wer diese Dichter und Schriftsteller nicht kannte, galt in der Gesellschaft als "ungebildet". Zumindest bis vor kurzem.
Zwar blieben ihre im illustren Zentrum von Baku errichteten Denkmäler unangetastet, aber ihre Popularität schwindet: Die zunehmend religiöse Rhetorik in der aserbaidschanischen Gesellschaft macht dieses literarische Erbe wegen seiner offenen und rigoros antireligiösen Haltung unerwünscht.
Die inoffizielle Verbannung von den Bühnen wird von aserbaidschanischen Intellektuellen heftig kritisiert: "Dass diese Stücke heute von den Bühnen verbannt werden, bedeutet, dass wir uns zurückentwickelt haben. Vor 150 Jahren sagte M. F. Akhundov noch, er betrachte alle Religionen als Legende und als unnütz. Er konnte offen für seine Ideen eintreten", sagt Sabir Rustemkhanli, Träger des aserbaidschanischen Dichterpreises.
Bei dem Versuch, die öffentlichen Proteste einzudämmen, wurde "Der Tod", ein Stück des prominenten Satirikers und Dramaturgen Jalil Mammadguluzade, kürzlich im Akademischen Nationaltheater wiederaufgeführt. In der ursprünglichen Fassung erscheint der atheistische Trunkenbold Kefli Iskender zu Ende der Aufführung auf der Bühne und stammelt einen Monolog, in dem er die Rückwärtsgewandtheit der Gesellschaft und insbesondere der Männer anklagt, die im Alter von 50 darauf bestehen, zehnjährige Mädchen zu heiraten. In der neuen und "verbesserten" Fassung bleibt er hingegen still und hält einen Koran in der Hand.
Bedrohung durch islamische Rechtsgutachten
Aserbaidschan grenzt an drei muslimische Länder: Iran, Türkei und die Teilrepublik Dagestan. Dort können bis heute muslimische Geistliche islamische Rechtsgutachten erlassen und die Verhaftung oder Tötung von Autoren verlangen. Dies war denn auch mehrfach der Fall – etwa im Jahr 2011 als der bekannte aserbaidschanische Essayist und Autor von Kurzgeschichten, Rafiq Tağı, in Baku ermordet wurde. Zuvor, im Jahr 2006, hatte der iranische Großajatollah Fazel Lankarani eine Todesfatwa gegen Tağı erlassen.
Es waren die Schriftsteller, die die Säkularisierung in Aserbaidschan voranbrachten und sich aktiv für die aserbaidschanische Aufklärung einsetzten. Auch heute noch fühlen sich aserbaidschanische Schriftsteller und Journalisten "verantwortlich" für ihre säkulare Gesellschaft, wie aus ihren Berichten über muslimische Touristen deutlich wird.
Nermin Kamal
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers