Den Atem Gottes spüren
Das Gottesgedenken der Nakschibendi beginnt leise, fast unmerklich. Scheich Eşref Efendi, der spirituelle Leiter der Gruppe, sitzt auf einem Sessel im Sufi-Zentrum Rabbaniyya am Bodensee. Über dem Hemd trägt er einen langen Umhang, auf dem Kopf einen weißen Turban. Die Versammlungen werden live gestreamt, man kann sie also bequem von zu Hause am Computer verfolgen. In der Hand hält der Scheich eine Gebetskette, deren Perlen er langsam durch die Finger gleiten lässt. Seine Schüler sitzen vor ihm auf dem Boden.
Der Nakschibendi-Orden ist einer der bekanntesten Sufi-Orden in Deutschland. Sufis, die islamischen Mystiker, machen insgesamt aber nur einen kleinen Anteil der in Deutschland lebenden Muslime aus, schätzungsweise etwa ein Prozent. In der Geschichte der islamischen Welt hingegen haben sie über Jahrhunderte eine bedeutende Rolle gespielt, vielerorts haben sie entscheidend die orientalische Hochkultur geprägt.
Das Ich überwinden, um Gott zu finden
Im Sufi-Zentrum Rabbaniyya treffen sich die Männer und Frauen des Nakschibendi-Ordens mindestens einmal in der Woche zum gemeinsamen Gottesgedenken, einer Art meditativer Andacht, auch Dhikr genannt.
Ganz in sich versunken wirken sie, Gott hingegeben, der Einzelne scheint sich fast in der Gruppe aufzulösen. Und eben das ist gewollt, sagt Feride Funda-Gençaslan, die Vorsitzende der Rabbaniya-Gemeinde in Deutschland. Denn um Gott näherzukommen, so sehen es die Sufis, muss man sein Ego überwinden: "Im Sufismus dreht sich alles um die Symbolik, und zwar um die Symbolik der Einheit Gottes, die Symbolik der Erinnerung an Gott, an die göttliche Gegenwart, dass wir stets Gottes Nähe erinnern, Gottesnähe erfahren und spüren. Denn im heiligen Koran heißt es: 'Allah ist uns näher als unsere Halsschlagader‘.“
Die aufmerksame Zuhörerin bemerkt das Musikalische, das Rhythmische dieser Form der Meditation sofort. Und tatsächlich ist der Einsatz von Klang und Musik typisch für die mystische Tradition des Islam, sagt Erdal Toprakyaran, Professor für Islamische Theologie an den Universitäten Tübingen und Luzern:
"Im Sufismus spielt die Musik eine sehr zentrale Rolle. Nicht in allen sufischen Traditionen. Es gibt tatsächlich auch welche, die für ihre eigene spirituelle Entwicklung die Musik nicht benutzen. Aber das ist eher die Minderheit unter den Sufis.“
Durch die regelmäßige, mantraartige Wiederholung bestimmter Koranverse und Loblieder auf den Propheten Mohammad versuchen Sufis, ihre Herzen zu erheben, das Bewusstsein zu schärfen und so Gott näherzukommen.
Intensive gemeinsame Andacht
Das Dhikr kann dabei allein oder gemeinsam, im Stillen oder laut ausgeführt werden. In vielen Sufi-Orden gehört eine stille, individuelle Meditation zur täglichen spirituellen Praxis. Darüber hinaus kennen die meisten Orden auch ein wöchentliches gemeinsames Dhikr.
Wie intensiv dieses gemeinsame Gottesgedenken werden kann, lässt sich auch bei einem anderen Sufi-Orden, den Burhaniyya erfahren. Hier beginnt das Dhikr mit der Anrufung der Engel, Propheten und Heiligen. Anschließend stimmt einer der Männer das "La ilaha illa-allah“ an. Es ist der erste Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses: "Es gibt keinen Gott außer Gott“.
Der sogenannte "Bust“ leitet das Dhikr der Burhanis. Mit Klatschen, Mantras und Atemübungen gibt er den Rhythmus vor. Kurz darauf stimmt einer der anderen Männer eine sogenannte "Qasida“ an, ein in Gedichtform verfasstes Loblied auf Gott, den Propheten oder einen der spirituellen Führer des Ordens. Die Männer erheben sich dazu, drehen ihre Oberkörper von links nach rechts oder schwingen auf der Stelle hin und her.
Schnelle Lieder wechseln sich ab mit ruhigen Sologesängen. Insgesamt aber steigert sich die Intensität, immer lauter wird der Gesang, bis das "La ilaha illa-allah“ allmählich in ein "Allah, Allah“ übergeht – und schließlich nur noch der Atem bleibt.
"Das versetzt dich in eine andere Welt. Du bist nicht mehr hier, du beschäftigst dich nicht mit den weltlichen Dingen. Du bist tatsächlich komplett woanders. Der Takt der Musik erinnert dich an deinen Schöpfer. An das, was dein Herz eigentlich die ganze Zeit über macht.“
So schildert es eine junge Frau, die am Dhikr teilnimmt mit verzücktem Blick. Damit beschreibt sie im Grunde genau das, was auch Erdal Toprakyaran als Grundfunktion der Musik in der Sufi-Praxis begreift: "Die Musik soll zur Vertiefung dienen, man spricht davon, dass sozusagen Gott in einer auch musikalischen Sphäre wohnt.“
Die Suche nach der schönen Musik sei auch immer die Suche nach Gott, nach dem göttlichen Klang, dem vollendeten Klang.
Die Rohrflöte symbolisiert den Atem Gottes
Zusätzlich aber erfülle das rituelle Gottesgedenken auch noch eine symbolische Funktion, sagt Feride Funda-Gençaslan, die Vorsitzende der Rabaniyya-Gemeinde. Sie soll den Sufi daran erinnern, dass alles Leben von Gott kommt. So symbolisiere etwa die Ney, die Rohrflöte, die gerade in türkischen Sufi-Orden viel eingesetzt wird, den "Atem Gottes“:
"Der Mensch, der zuerst erschaffen wurde, war erstmal nur ein hohler Körper aus Erde und Wasser und nur durch den göttlichen Atem 'Huu‘, was gleichzeitig auch ein Laut ist, bekam er Leben eingeflößt.“
Die Trommel imitiere das Herz, denn das Herz bewege alles, erklärt sie. "Das Herz pumpt die Kraft, die Energie, und das Herz bildet die Verbindung zwischen unserem spirituellen und unserem physischen Sein.“
Bei denen, die sich als Erzfeinde der Sufis sehen, den Islamisten, stößt so etwas auf Unmut. Denn es gibt einige unter ihnen, etwa die afghanischen Taliban, die überzeugt sind, dass Musik – und zwar jede Art von Musik – "haram“, also verboten sei.
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Die junge Frau aus dem Orden der Burhaniyya sagt, sie habe früher selbst mal geglaubt, dass Musik den Muslim von seinen gottesdienstlichen Pflichten ablenkt: "Ich denke, dass viele, die dagegen sind, das ganze sehr negativ betrachten. Sie sagen, schaut doch, was die Musik mit den Menschen macht.“
Musik könne Menschen negativ beeinflussen und sie von Gebeten oder Koranrezitation ablenken. "Das mag vielleicht so sein, aber man muss die Sache auch so sehen, dass Musik deinem Herzen guttut.“
Wer Gott wirklich nahe ist, braucht keine Musik mehr
Historisch vertrat auch die Mehrheit der islamischen Gelehrten diese differenzierte Position: Musik ist nicht per se ein Problem. Es kommt darauf an, wie sie eingesetzt wird. Und islamische Mystiker zumindest haben in ihr seit Jahrhunderten einen Weg gesehen, um Gott näherzukommen.
Allerdings, sagt Feride Funda-Gencaslan: Wer es schaffe, in die höchsten Stufen aufzusteigen, wer also Gott ganz nahe kommt, der brauche auch diese Krücke nicht mehr: "Wenn wir noch auf einer unteren Bewusstseinsstufe stehen, brauchen wir Bilder, Töne und Klänge. Wir brauchen jemanden, der uns an der Hand hält und auf den Weg zur göttlichen Gegenwart führt. Und je höher wir uns in unserer Spiritualität und unserem Bewusstsein, unserer Gotteserfahrung entwickeln, umso mehr lassen wir los. Wir lassen die Bilder los, wir lassen die Namen los, wir lassen die Klänge und Töne los, und dann geht es nur noch um den Einen und Einzigen.“
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