Ende für "Blitzscheidungen"
Indiens Minsterpräsident Narendra Modi gab seinen Kommentar, wie so oft, über den Kurznachrichtendienst Twitter ab: Das Urteil des Obersten Gerichts sei "historisch", es gewähre Gleichheit für die muslimische Frau und sei eine kraftvolle Botschaft für ihre Gleichstellung.
Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof in einem mit Spannung erwarteten Urteil befunden, dass die bei Indiens Muslimen verbreitete Scheidungspraxis des "dreifachen Talaq" (talaq-e-biddat) gegen die Verfassung verstößt. Mit dieser Grundsatzentscheidung erreicht ein seit Jahrzehnten schwelender Streit über eine zentrale Frage des Familienrechts der muslimischen Minderheit seinen Endpunkt.
Die Frage, welches Scheidungsrecht für die 180 Millionen Inder muslimischen Glaubens gilt, war seit jeher mehr als ein Disput unter Juristen. Hier ging und geht es um das in hohem Maße prekäre Verhältnis zwischen religiöser Mehrheit (Hindus) und religiöser Minderheit (Muslime). Letztlich ging es bei dem Rechtsstreit aber auch um die für die indische Republik staatspolitische Gretchenfrage: Wie halten wir es mit dem Säkularismus?
Die Trennung von Staat und Religion ist in der Verfassung festgeschrieben. Siebzig Jahre nach der Republikgründung klaffen Verfassungsanspruch und Wirklichkeit in dieser Kardinalfrage indes nach wie vor auseinander.
Unvereinbar mit dem indischen Grundgesetz
Um seine Ausgewogenheit in der emotional aufgeladenen Materie zu untermauern, hatte das Gericht fünf Richter jeweils unterschiedlicher Religionszugehörigkeit mit dem Fall betraut. Pluralistisch war nicht nur die Zusammensetzung des Richtergremiums. Unterschiedlich fiel auch die Meinungsbildung aus: Drei der fünf Verfassungsrichter meinten am Ende, die sogenannte Blitzscheidung, die dem Mann das Recht gibt, durch dreimaligen Zuruf des Wortes "Talaq" ("entlassen") die Ehe kurzfristig zu beenden, sei nicht vereinbar mit dem indischen Grundgesetz.
Die Begründung des 272-seitigen Urteils, den die Richter mit umfangreicher theologischer Expertise untermauern, lautet: Die Talaq-Praxis sei kein wesentlicher Bestandteil des Islam und somit auch nicht durch den Grundsatz der Religionsfreiheit geschützt.
Die Religionsfreiheit ist im multireligiösen Indien ein hehres Prinzip. Konkreten Ausdruck findet dies in der weitreichenden Autonomie der Religionsgemeinschaften in allen Fragen des Familienrechts. Indien hat – und hier liegt die Hauptursache für die aktuellen Diskussionen – kein einheitliches Personenstandsrecht. Wenn es um Heirat, Scheidung, Adoption oder Erbschaftsfragen geht, ist für Indiens Muslime die Scharia das Maß aller Dinge.
Die anderen Religionsgemeinschaften haben ihre jeweils eigenen Gesetze, die jeweils auf jahrhundertealte Traditionen zurückgehen. Diese Traditionen sind ein wichtiges identitätsstiftendendes Moment in der in hohem Maße pluralen indischen Gesellschaft.
"Unterschwellig haben alle diese Gesetze, ganz unabhängig von der Religion, eines gemein: die Frau ist dem Mann nicht gleichgestellt. Die Gesetze diskriminieren die Frau, wenn es um Ehe, Erbschaft und Vormundschaft für die Kinder geht", schreibt Vibhuti Patel in einem Zeitungsbeitrag unter der Überschrift "Sämtliches Familienstandsrecht in Indien ist diskriminierend".
Nur ein Zwischenschritt?
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass jetzt ausgerechnet die Hindu-nationalistische "Indische Volkspartei" (BJP), die politisch am rechten Rand steht und deren Verhältnis zur muslimischen Minderheit alles andere als störungsfrei ist, sich als Sachwalterin des Säkularimus und der Rechte der muslimischen Frauen profiliert. Die Regierungspartei, die nach einer Serie von Erfolgen bei Landtagswahlen auf dem besten Weg ist, die politische Macht in der größten Demokratie der Welt zu monopolisieren, hat keinen Hehl daraus gemacht, dass das Verbot der Talaq-Scheidung nur ein Zwischenschritt ist: In ihrem Wahlprogramm verlangt die Hindu-Partei die Einführung eines einheitlichen Personenstandsrechts, das für alle Religionsgemeinschaften zu gelten habe.
Bei der muslimischen Minderheit, vor allem in Kreisen der konservativen geistlichen Führung, stößt dieser Plan auf entschiedene Ablehnung. Die islamische Geistlichkeit und ihre Organisationen fürchten um ihre Autonomie und die "Majorisierung" der Minderheit durch die Mehrheit der Hindus.
Liberale Inder werfen der Regierungspartei derweil Heuchelei vor: "Diejenigen, die jetzt jubeln und für die muslimischen Frauen streiten sind dieselben, die an der Spitze der Verhinderer einer Reform für die Hindus standen", schreibt Sagarika Ghose in The Times of India. Die Unterstützung des Ministerpräsidenten für das Urteil gegen das "dreifache Talaq" sei willkommen. Aber wieso habe er nicht eine ähnliche Leidenschaft an den Tag gelegt, als es um die Diskriminierung der Hindu-Frauen geht?", fragt die streitbare Journalistin.
Die Regierung hat unterdessen zu verstehen gegeben, dass sie im Moment nicht daran denke, ein Reformgesetz im Parlament einzubrigen. Man werde zunächst nach Art eines "runden Tisches" eine Allparteien-Konferenz einberufen und dort über die Reform des Personalstandsrechtes beraten.
Für die muslimische Frau ist der Entscheid des Höchsten Gerichts ohnehin allenfalls ein Teilerfolg. Zwar rechnen Experten damit, dass die "Ehescheidung per Zuruf", die im Zeitalter der Digitalisierung bisweilen auch via SMS oder WhatsApp ausgesprochen wurde, nicht mehr zum Zuge kommt. Bis auf weiteres bleibt der Koran bei Scheidungen von Muslimen in Indien aber ausschlaggebend.
"Auch nach diesem bedeutsamen Urteil können wir nicht über die Gleichberechtigung der Geschlechter bei muslimischen Ehescheidungen in Indien sprechen", resümiert Sylvia Vatuk, die ein Buch über Ehe, Islam und Frauenrechte in Indien geschrieben hat.
Ronald Meinardus
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Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung mit Sitz in Neu Delhi.