Das passende Ventil
"Wenn die Kanonen donnern, dann schweigen die Musen". So jedenfalls sagt ein – offensichtlich sowjetisches – Sprichwort. Im Israel des 21. Jahrhunderts könnte man es jedoch folgendermaßen ausdrücken: "Wenn die Kanonen donnern, dann halten die TV-Kommentatoren nie die Klappe".
Seit Beginn der Kämpfe – eigentlich aller Kämpfe der vergangenen Jahre –, doch wir wollen uns auf die aktuelle Gewalteskalation zwischen Hamas und Gaza konzentrieren – haben alle großen TV-Sender ihr normales Programm durch ein 24-Stunden "Sonder"-Nachrichtenprogramm ersetzt, welches in Dauerschleife die aktuellsten Bilder liefert: eine über den Nachthimmel fliegende Rakete, ein Loch im Dach eines getroffenen Hauses, eine Gruppe träge herumsitzender und auf Instruktionen wartender Reservesoldaten.
Und dann die Kommentatoren, die Experten: Sie alle sind Männer, sie alle haben jahrelange Erfahrung mit den Israelischen Streitkräften der IDF, dem Mossad oder dem Shin Bet. Sie alle haben ergrautes Haar und Bäuche in verschiedenen Stadien des Wachstums. Und sie alle wissen genau, was Israel tun müsste, wenn es die Hamas ein für alle Mal erledigen wollte.
Außerdem saßen sie alle beim letzten Mal – vor zwei, vier, sechs Jahren – in den gleichen Studios, sprachen mit ihrem wissenden und erfahrenen Ausdruck über die gleichen Dinge und schlugen die gleichen Lösungen vor – wobei sie heute alle vergessen haben, dass diese schon beim letzten Mal nicht funktionierten.
Manch einer von ihnen schlüpft sogar in die Rolle eines Cheerleaders, feuert das Militär an und verlangt nach mehr Feuer und Blut. Roni Daniel, Militär-Kommentator der bekannten Channel 2 News, ist solch ein Kandidat. In der vergangenen Woche verkündete er, eine "Dakhia" in Israels Operation sehen zu wollen, wobei er an die Zerstörung der Wohngebiete Beiruts im zweiten Libanonkrieg von 2006 dachte, welche in den Augen der Israelis die finale, zum Sieg führende Kriegshandlung eingeleitet habe.
Im Anschluss an diese Aussage wurde er im Studio von dem neben ihm sitzenden arabischen Knesset-Mitglied Dr. Ahmad Tibi beschuldigt, den Tod von Kindern und Familien herauszufordern und zwischen den beiden brach ein lautstarker Streit aus.
Zwischentöne unerwünscht
In Kriegszeiten ist fast schon voraussehbar, mit welchen Informationen und Berichten Israels Medien aufwarten: Es ist bekannt, dass die drei Hauptsender (1, 2, und 10) mit den IDF und den Regierungssprechern konform gehen, nur die eine Seite der Ereignisse darstellen und – gleich einem Gesangschor – versuchen, ihre Stimmen in Einklang zu bringen (wobei man sich mancher Personen, die aus dem Takt fallen, wie etwa Tibi, schnellstmöglich entledigt).
Die unnötige Mühe echter journalistischer Arbeit machen sie sich selten – keine Recherche, keine schwierigen Fragestellungen, keine Suche nach objektiven Fakten gegenüber der Öffentlichkeit.
Israels Presse ist sogar noch leichter zu durchschauen: Die von Netanjahus Gönner Sheldon Adelson finanzierte Israel Hayom steht vollkommen hinter jeder Entscheidung der Regierung. Die in der politischen Mitte angesiedelte Yediot Achronot stellt sich zwar gegen Netanjahu, gibt sich jedoch gleichzeitig betont patriotisch und einseitig, ebenso wie die im Sterben begriffene Maariv. Die Haaretz vertritt zwar als einzige Zeitung liberale und oppositionelle Positionen, aber auch um ihre finanzielle Zukunft ist es derzeit eher düster bestellt.
Das Radio teilt sich in das staatlich finanzierte Kol Israel, welches bereits stark von Verantwortlichen der Regierung beeinflusst wird, und dem Radio der IDF, das zwar offener ist als man zunächst annehmen mag, aber dennoch allein schon aufgrund seiner Definition den Streitkräften untersteht.
Der Kontrolle entzogen
Vor dem Hintergrund dieser klaren Bestimmung der klassischen Medien im gegenwärtigen Konflikt stellen soziale Medien wie Facebook, Twitter, Blogs und Online-Diskussionsforen eine alternativen, unumgänglichen Weg dar, Neuigkeiten, Meinungen und Ansichten zu äußern.
Natürlich nutzen auch die offiziellen Gremien, wie das Büro des Premierministers, der Pressesprecher der IDF und Politiker, diese neuen sozialen Medien: Wie alle anderen twitterten und kommentierten und "like"-ten sie auch in den Tagen der Militäroperation. Anders als bei den traditionellen Medien sind sie hier jedoch nur eine von Millionen verschiedener Stimmen.
Sie haben keinen Einfluss auf das Veröffentlichte und können ihre Kontrolle, wie sie sie in größerem oder kleinerem Ausmaß bisher ausgeübt hatten, nicht fortsetzen – weder unter Einsatz von Geld, noch von Macht.
Der neue Medienbereich ist weitaus pluralistischer, offener, ehrlicher und deshalb auch wesentlich interessanter und authentischer. Hier werden die sonst beiseite geschobenen, schwierigen Fragen gestellt, hier werden die allseits als Wahrheit betonten Aussagen bezweifelt, hier findet man die schnellsten Reaktionen und informiert sich über die aktuellsten Diskussionen.
Und schließlich ist auch die Atmosphäre lockerer und witziger, quasi das Gegenteil der ernsten Nachrichtenstudios, in welchen sich mürrische Männer mit düsteren Mienen die Klinke in die Hand geben. Die sozialen Medien sind ein passendes Ventil, um Druck abzulassen.
Es kann abschreckend sein, die Nachrichten auf Twitter und Facebook zu verfolgen, denn man wird schonungslos Zeuge des angehäuften Hasses sowie der Blindheit und der Hoffnungslosigkeit, die viele Menschen verspüren. Allerdings kann das Gemeinschaftsgefühl, welches all die Menschen mit ihrer Weisheit und ihrem Humor online erschaffen, auch sehr beruhigend wirken. Man fühlt sich zumindest nicht alleine und ausgeschlossen.
Ende der Informationsblockade
Ob diese neue Art des Medienkonsums die Auffassung und das Verständnis der Menschen verändern kann, wird man sehen. Letzten Endes entscheidet sich jedes Individuum für seine eigene spezifische Mischung aus Menschen und Organisationen als Informationsquellen. Diejenigen, die sich der einen Seite zugehörig fühlen, werden demnach nur die Nachrichten und Ansichten verfolgen, welche ihren Ansichten entgegenkommen. Jeder hält letztendlich zu sich selbst.
Dennoch bieten die sozialen Medien – im Gegensatz zu den traditionellen – endlose Möglichkeiten. Es gibt keine Beschränkung auf ein paar wenige Ansichten, die alles Geschriebene oder Ausgestrahlte kontrollieren. Jeder ist sein eigener Redakteur und jeder kann für sich selbst auswählen.
Dieser Pluralismus an Stimmen macht eine Durchdringung von Fakten möglich: Wahrheiten kommen durch, Ideen finden ihren Weg ans Licht. Kanalisierte Informationen und Gehirnwäsche lassen sich daher in Zukunft sehr viel schwerer durchführen – und das ist eine positive Entwicklung.
Assaf Gavron
© Qantara.de 2012
Der israelische Schriftsteller Assaf Gavron, 1968 in Jerusalem geboren und aufgewachsen, studierte in London und Vancouver. Heute lebt der Autor in Tel Aviv. Zuletzt erschien sein Roman, "Ein schönes Attentat" (Verlag Luchterhand), in dem er die Innenwelten eines israelischen Terroropfers und eines palästinensischen Selbstmordattentäters beleuchtet.