Ein neuer Blick auf ein altes Palästina
Eine Feier in reichem Hause, opulent geschmückter Weihnachtsbaum, viele Gäste, großbürgerliches Ambiente – Jerusalem, Weihnachten 1947. So beginnt Julian Schnabels Tour de Force durch die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Mit der Staatsgründung Israels wenige Monate später und der damit einhergehenden Vertreibung großer Teile der palästinensischen Bevölkerung sowie mehreren Massakern endet das gediegene Leben.
Hind Husseini (Hiam Abbas), Mitglied der berühmten Jerusalemer Husseini-Dynastie, eine der Gäste auf der Weihnachtsfeier, trifft auf der Straße auf eine Gruppe verwaister Kinder, die beim Massaker von Deir Yassin, nahe Jerusalem, ihre Eltern verloren haben.
Kurz entschlossen und standesgemäß philantrophisch nimmt Husseini die Kinder mit in die Stadtvilla der Familie und gründet ein Waisenheim, das Dar al-Tifl (Haus des Kindes). Aufgrund der Nakba, der palästinensischen Katastrophe und israelischen Unabhängigkeit, wächst das Waisenheim schnell.
Hind Husseini entscheidet, der Gewalt allein durch gute Erziehung und Bildung etwas entgegenzusetzen und schließt dem Waisenhaus für Mädchen eine Schule an. Der Film lehrt, dass dies gut und der einzig richtige Weg ist. Alle Menschen, die in Verbindung mit dem Waisenheim stehen, sind schön, sogar unglaublich schön. Und sehr gut.
Fetisch der Schönheit
Oberflächlich ist die Geschichte schnell zu Ende erzählt: Das Waisenhaus wird von Hind Husseini bis zu deren Tod 1994, kurz nach der Unterzeichnung der Osloer Verträge, geleitet. "Mama Hind" bleibt ihren Prinzipien treu und lehnt auch in den Hochzeiten des bewaffneten Befreiungskampfes Gewalt kategorisch ab – keine Diskussion.
Über den erzählten Zeitraum von 50 Jahren, in denen ausschließlich private und nie politische Gewalt im Bild zu sehen ist, werden Frauen aus drei Generationen vorgestellt: Hind Husseini, Nadia (Yamsine al-Masri) und ihre Tochter Miral (Slumdog Millionär-Star Freida Pinto), alle aus dem Dar el-Tifl und wunderschön.
Nur Fatima (Ruba Blal) ist – seit sie eine Bombe gelegt hat – ziemlich hässlich. Die Rückblende zeigt, dass auch sie vorher gut aussah.
Die spiegelglatte Oberflächlichkeit des Films ist zu großen Teilen dem Drehbuch der in Italien lebenden palästinensischen Journalistin Rula Jebreal anzulasten, eine Adaption ihres halb-autobiographischen Romans "Miral. Ein Land. Drei Frauen. Ein gemeinsamer Traum".
Der orientalistische Blick und der Marxismus
Wie auf jeder polierten Fläche lassen sich auch in "Miral" Schrammen finden. Durch sie kann man auf eine zweite Ebene blicken, die den Film gewissermaßen spannend macht.
Julian Schnabel wusste, bevor er Jebreals Roman gelesen hatte, wenig über Palästina, sein Blick war, so die Autorin, sehr unschuldig und unverstellt. Daher ist es wohl eher Zufall, dass Schnabel Bilder aufnimmt, die bezüglich Palästina lange einer Art Tabu unterlagen: Darstellungen der Mittel- und die Oberschicht.
Die Filmbilder Palästinas in den im Westen zugänglichen oder produzierten Arbeiten zeigen in erster Linie arme Menschen, Flüchtlinge, Elend und Verzweiflung und vermitteln: palästinensische Menschen sind anders.
Der eine Ursprung dieser Darstellung begründet sich durch eine lange okzidentale Tradition des orientlistischen Blicks auf die Region, der gerade in Bezug auf Palästina durch die frühe Fotografie gefestigt wurde.
Die ersten europäischen Fotografen wollten anhand von dokumentarischen Aufnahmen im Land der Bibel beweisen, dass die Heilige Schrift wahr ist und dadurch Darwins just aufkommenden Thesen widerlegen. Ihre gestellten Fotos suggerieren, dass sich der Ort seit zwei Jahrtausenden nicht verändert habe – und diese Bilder wirken bis heute nach.
Der zweite Ursprung ist arabisch: Palästinensisches Filmschaffen begann als Teil des Befreiungskampfes in den späten 1960er Jahren, also einer Zeit zahlreicher Filmmanifeste marxistischer Prägung weltweit. Das Volk stand im Mittelpunkt, Arme, Flüchtlinge, Ausgebeutete.
Die Filme zeigen Elend und Verzweiflung und rücken damit in den Fokus, was von den Herrschenden bewusst geleugnet und kaschiert wurde und wird. Die Bilder der palästinensischen Regisseure sind denen ihrer europäischen Kolleginnen und Kollegen frappierend ähnlich. Der Unterschied ist, dass den Arabern der Pomp ihrer Reichen alltäglich begegnet, während er den Europäerinnen und Europäer meist nicht bekannt ist.
Das Diktat des Kollektivs
Gleiches gilt bezüglich der Rezeption dieser Arbeiten. Die palästinensischen Regisseurinnen und Autorinnen hingegen kommen, wie die meisten Künstlerinnen international, aus eben dieser gesellschaftlichen Schicht. In den letzten zehn Jahren haben vermehrt palästinensische Frauen angefangen, Filme zu machen.
Parallel entwickelte sich in der arabischen Welt eine Tendenz, persönlichere Geschichten zu erzählen und mit Fragen nach dem "Ich" dem Diktat des "Wir" etwas entgegen zu setzen. Die Palästinenserinnen machen Filme über ihre Familien und brachten somit das Bürgertum auf die Leinwand. Nur sind die Produktions-Budgets von Frauen überall und fast immer wesentlich niedriger als die von Männern. Ihre Filme finden weit weniger Verbreitung.
"Miral" ist vermutlich die erste westliche Produktion über Palästina, in der mit aller Selbstverständlichkeit die Reichen gezeigt werden, und zwar vor der Vertreibung und der Zerstörung der gesellschaftlichen Strukturen.
Schnabel und Jebreal haben akribisch darauf geachtet, Erzählungen und Darstellungen von staatlicher Gewalt zu vermeiden und einen aus westlicher Sicht friedvollen und optimistischen Film zu schaffen.
Diese Logik brechen sie radikal mit den ersten Szenen: Sie zeigen eine ausdifferenzierte, moderne Gesellschaft und widersprechen damit sowohl der westlichen Vorstellung vom rückständigen Palästina als auch dem zionistischen Mythos eines leeren Landes.
Im Presseheft des deutschen Verleihs findet sich ein Statement von Schnabel zu seinem Film. Über seine Bewunderung für Hind Husseini schreibt er: "Als sie 1948 fünfundfünfzig Kinder verlassen in den Straßen von Jerusalem fand, gründete sie das Dar-Al-Tifl-Waisenhaus." In seinen Worten erkennt man die Begeisterung für das karitative Engagement.
Aber auch in Jerusalem findet man nicht grundlos Kinder auf der Straße, schon gar nicht 1948. Diesen Mythos zu brechen war kaum die Absicht von Schnabel und seinem Team, sondern wohl eher eine Panne.
Irit Neidhardt
© Qantara.de 2010
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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