Stunde Null in Libyen

Mit dem militärischen Erfolg der libyschen Rebellen in Tripolis ist das Schicksal des alten Regimes besiegelt. In der Bevölkerung ist die Freude über das greifbare Ende der Schreckensherrschaft Gaddafis groß.

Von Alfred Hackensberger

Muammar Gaddafi nannte sie "Ratten, die Libyen hassen, Kinder zu Waisen und Frauen zu Witwen machen". Sie seien kurzerhand eliminiert worden, versicherte der Diktator in einer Audiobotschaft, die das libysche Staatfernsehen am Montagmorgen sendete. Aber Gaddafi hatte sich schwer getäuscht. In nur wenigen Stunden brachten die Rebellen Tripolis unter Kontrolle. Von der libyschen Armee gab es so gut wie keinen Widerstand gegen den Einmarsch. Die Bewohner der Hauptstadt feierten ihre Befreiung auf dem Grünen Platz, der bisher nur für Jubelfeiern des Regimes vorbehalten war.

Nur wenige Gaddafi-Loyalisten liefern sich bis heute noch Gefechte im Westteil von Tripolis, in dem auch das legendäre Gelände Bab Al Aziza liegt, in dem Muammar Gaddafi und seine Familie lebten. Wo der Ex-Diktator sich derzeit aufhält, ist unbekannt. Alle Meldungen, Gaddafi habe sich ins Auslands abgesetzt, erwiesen sich bisher als falsch. Drei seiner Söhne, darunter Saif al-Islam, der als Nachfolger seines Vaters galt, sind verhaftet worden. Saif al-Islam ist unterdessen unter ungeklärten Umständen auf mehreren internationalen Fernsehsender aufgetreten und die Nachrichtenlage dementiert. Einer anderer Sohn, Mohammed Gaddafi, konnte aus dem Hausarrest fliehen, unter den man ihn gestellt hatte.

Die Rebellen nannten es die "Stunde Null", als der Aufstand am vergangenen Samstag in Tripolis begann. Maschinengewehrsalven und Explosionen waren in der libyschen Hauptstadt zu hören. Nach dem Iftar, dem Fastenbrechen im Monat Ramadan, gingen tausende von Bewohnern der Hauptstadt auf die Straße, um gegen das Gaddafi-Regime zu protestieren.

Imame rufen zum Aufstand auf

Die Imame der Moscheen sollen über ihre Lautsprecher, mit denen normalerweise zum Gebet gerufen wird, zum Aufstand aufgefordert haben. Unter den Demonstranten waren auch Bewaffnete, die sich mit Soldaten der libyschen Armee Feuergefechte lieferten. Besonders heftige Auseinandersetzungen hatte es in Tajoura geben. Ein Stadtteil, in dem es bereits zu Beginn der Revolte gegen Gaddafi im Februar zu Konfrontationen gekommen war. Zudem kam es rund um den Migati-Flughafen, der im Zentrum von Tripolis liegt, zum Schusswechsel zwischen Rebellen und Regierungssoldaten. Es ist ein kleiner Flughafen, auf dem Staatsgäste empfangen werden. "Das war alles vorgeplant", versichert Abdel Hafiz Ghoga vom Nationalen Übergangsrat (NTC) in Bengasi. "Lange haben wir das vorbereitet, in Koordination mit den Kämpfern, die vom Süden, Norden, Westen und Osten auf die Hauptstadt vormarschieren".

Niemand hatte geglaubt, dass es so schnell und mit so geringer Gegenwehr abgehen könnte. Die Rebellen hatten bereits mehrfach den Beginn der Revolution in der Hauptstadt verkündet. Als im April dieses Jahres nächtliches Maschinengewehrfeuer zu hören war, hieß es, Rebellen würden Checkpoints der Armee angreifen und kontrollierten einige Vororte von Tripolis. Damals hatte der Aufstand jedoch nicht auf die ganze Stadt übergegriffen, wie angekündigt.

Entsprechend überzeugt verkündete Saif al-Islam noch am vergangenen Freitag im Staatsfernsehen: "Die Revolte wird in Libyen nicht gelingen. Wir werden niemals die weiße Flagge hissen. Das ist vollkommen unmöglich. Es ist unser Land und wir werden es nie verlassen".

"Feige Ratten"

Das Ende des Gaddafi-Regimes war jedoch spätestens dann besiegelt, als die Rebellen Tripolis von allen Nachschubwegen abschnitten. Nahrungsmittel wurden knapp und teuer. Immer häufiger fielen die Stromleitungen aus und Benzin war seit Monaten bereits Mangelware. Banken und Regierungsbüros blieben meist geschlossen. Zudem fielen Tag für Tag die Bomben der Nato-Kampfflugzeuge. Zu tausenden waren Zivilisten aus der Hauptstadt geflohen. Sie hatten Angst, der Kampf um Tripolis könnte bald beginnen. "Die Soldaten an einem Kontrollpunkt nannten uns feige Ratten", berichtet ein Flüchtling. "Sie schickten uns wieder zurück, aber ich habe sie über einen Schleichweg passiert. Nun sind wir endlich frei".

Jubeltaumel in Bengazi; Foto: dpa
Freudentaumel in der Rebellenhochburg Bengazi. Lange Zeit kämpften sie ohne entscheidende Hilfe der Nato.

​​Im Flüchtlingsstrom schaffte es auch Abdel Salam Jalloud zu entkommen. Er gehörte zur Junta, die 1969 den libyschen König Idris stürzte und Gaddafi an die Macht brachte. Jalloud blieb zwei Jahrzehnte lang, unmittelbar nach dem Diktator, die wichtigste politische Figur des Landes.

Anfang der 1990er Jahre fiel er jedoch in Ungnade, weil er angeblich Gaddafi mehrfach widersprochen hatte. Ihm wurde der Reisepass abgenommen und er wurde von der Öffentlichkeit komplett ausgeschlossen. Der ehemalige Weggefährte Gaddafis konnte sich nach Zintan in den Nafusa-Bergen absetzen. Von dem hauptsächlich von Berbern bewohnten Hochplateau startete die effizienteste Militäraktion der Rebellen. Sie vertrieben alle Gaddafi-Truppen in den Bergen und stießen im muslimischen Fastenmonat Ramadan über 100 Kilometer weit bis an die Mittelmeerküste vor. Sie eroberten Zawiyah, einen strategisch wichtigen Ort, der auf der Route zur tunesischen Grenze liegt und über die einzige noch funktionierende Erdölraffinerie des Landes verfügt. Eine Eroberung mit weitreichender symbolischer Bedeutung. Zawiyah liegt nur 50 Kilometer von Tripolis entfernt und damit war klar, das Ende des Gaddafi-Regimes ist angebrochen.

Letzter Stoß aus den Nafusa-Bergen

In Ostlibyen konnten sich die Rebellenmilizen bisher nur auf 180 Kilometer der Hauptstadt nähern. Die Rebellen aus dem Westen, den Nafusa-Bergen, gaben dem Diktator den letzten Stoß. Fast schon eine Ironie. Gaddafi hatte sie, als ethnische Minderheit von Berbern, diskriminiert und ihre Sprache, Amazigh, verboten.

​​"Wir sind zufrieden", sagt Mohamad Glaawit vom Übergangsrat aus dem Dorf Galaa in den Nafusa-Bergen. "Wir hatten das bereits vor zwei Monaten geplant und alles hat so geklappt, wie wir das vorgehabt haben." Selbst der Aufstand in der Hauptstadt habe funktioniert, fügt Glaawit schmunzelnd an. "So wurde ein blutiger Straßenkampf verhindert und der Tod vieler Libyer vermieden."

Der Schlüssel zum Erfolg der Rebellen aus den Nafusa-Bergen lag in ihrer Geschlossenheit, Organisation und Disziplin. Im Kampf folgten sie den Anweisungen ihrer Anführer, die sich aus alt gedienten Offizieren der libyschen Armee zusammensetzen und meist noch über Fronterfahrung aus dem Tschadkrieg (1978-87) besaßen. Lange Zeit kämpften sie ohne entscheidende Hilfe der Nato. Obwohl sie ständig unter Beschuss von "Grad"-Raketen standen, drängten sie die Gaddafi-Truppen vom Hochplateau zurück.

In Ostlibyen dagegen arbeiten unterschiedliche Milizen nebeneinander: mit ideologischen Differenzen und verschieden politischen Persönlichkeiten, oder Stammesführern unterstellt. Ersichtlich wurde das bei der Ermordung von Abdul Fatah Younis am 28. Juli. Der Tod des Oberbefehlshabers der Rebellen geht auf das Konto einer islamistischen Miliz, die ihn kidnappte, dann erschoss und seine Leiche zusammen mit denen seiner zwei Begleiter in einem Wagen verbrannte.

Selbst Gaddafi-treue Milizen konnten auf dem Rebellenterritorium bis dahin unbehelligt agieren. An der Küste erschwerte auch die Vegetation ein militärisches Fortkommen. Unter Bäumen und in Wäldern konnte die libysche Armee ihre Panzer und Artillerie besser vor den Angriffen der Nato-Kampfjets verstecken. Auf der Ebene, die sich an die Nafusa-Bergen anschließt und bis nach Tripolis reicht, war das kaum möglich. Die Nato konnte in nur wenigen Tagen die Panzer und Artillerie ausschalten, die den Vormarsch der Rebellen aus den Bergen hätte aufhalten können.

Alfred Hackensberger

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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de