An erster Stelle steht der Mensch
Diabs Buch wurde von der in London erscheinenden Tageszeitung "The Guardian" als Teil ihrer E-Book-Sachbuchreihe "Guardian Shorts Originals" herausgegeben. Das Ziel dieser Buchreihe besteht darin, den Lesern "große Geschichten und wegweisende Themen in E-Books" zu bieten, die in ein oder zwei Stunden gelesen werden können. "In erster Linie beabsichtigen wir, die Interessen der Leser anzustacheln, ihre Vorstellungskraft anzuregen und ihre Perspektive zu erweitern", heißt es in einer Erklärung der "Guardian"-Medienmacher.
Diabs Buch erfüllt diese Kriterien in hohem Maße. Es ist gewinnend, informativ und oft witzig geschrieben, und es führt die Leser in ein beeindruckend umfangreiches und vielfältiges Ensemble israelischer und palästinensischer Protagonisten ein. Trotz der Kürze des Buches gelingt es dem Autor, eine Vielzahl von Aspekten des Nahostkonflikts zu thematisieren.
Diab schreibt regelmäßig für den "Guardian" und andere Publikationen in Europa, den USA und im Mittleren Osten, darunter auch für die liberale israelische Tageszeitung "Haaretz". Sein Blog, "The Chronikler", den er seit 2009 verfasst, gewann 2012 den Preis für den besten Blog ("Best of the Blogs") in englischer Sprache.
In seinem Vorwort erklärt Diab, dass ihm die geopolitischen und historischen Aspekte des israelisch-palästinensischen Konflikts zwar bekannt waren, als er Journalist wurde. Er hatte jedoch immer stärker das Bedürfnis, in diesem Kontext auch die menschlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte zu verstehen. Diab kam schließlich zu der Überzeugung, einer eventuellen Versöhnung - und damit dem Frieden - müsse ein stärkerer Kontakt von Mensch zu Mensch auf beiden Seiten vorausgehen.
Blick hinter dem "zionistischen Vorhang"
Nachdem Diab die belgische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, ging er 2007 auf seine erste Reise hinter den von ihm so genannten "zionistischen Vorhang". Diese vierzehntägige Reise war "eine der intensivsten, hyperrealsten und sogar irrealsten Erfahrungen meines Lebens – sei es, herauszufinden, wie sich die Israelis bei sich zu Hause verhalten, bis hin zu der Erkenntnis, dass die Besatzung nicht die einzige Sorge der Palästinenser ist". Seit 2011 lebt Diab (mit einem Jahr Unterbrechung) gemeinsam mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in Jerusalem.
Sein erstes Kapitel mit dem Titel "The tragedy of repetition" ("Die Tragik der Wiederholung") beschäftigt sich mit dem siebenwöchigen Gazakrieg vom Sommer 2014, in dessen Verlauf rund 2.131 Palästinenser getötet wurden, darunter 1.473 Zivilisten (verglichen mit 71 israelischen Opfern, die bis auf fünf Personen ausschließlich Soldaten waren). Die Reaktion sowohl der Palästinenser als auch der Israelis auf den Krieg bestand in einer Verhärtung der Meinungen auf beiden Seiten. Die auf den Krieg folgenden Zusammenstöße und Proteste in Ostjerusalem und im Westjordanland haben die Spekulationen darüber verstärkt, dass wir an der Schwelle zu einer dritten Intifada stehen könnten: "Ob eine neue Intifada friedlich sein wird wie die erste oder gewalttätig wie die zweite, wird sich erst noch erweisen müssen."
Diab legt in seinem Buch besonderen Wert darauf, aufzuzeigen, dass es neben der Gewalt, den Schwierigkeiten und Rückschlägen für die Palästinenser auch noch andere Aspekte gibt, wie beispielsweise Satire und Humor. So erzählt beispielsweise der junge Filmemacher und Journalist Aya El-Zinati aus Gaza: "Wie ich lebe, kann ich nur durch Ironie beschreiben und ausdrücken."
Im Kapitel "Introducing the Palestinians" ("Vorstellung der Palästinenser") gibt es einen Abschnitt über Kultur als Kunst des palästinensischen Widerstands. Diab betont die künstlerische Arbeit von Palästinensern, sowohl in Palästina als auch in der Diaspora, in einer Vielzahl von Bereichen, darunter Hip-Hop-Dichtung, Comedy, Film und Prosa. Festivals wie das "Qalandiya International" und das "Palästinensische Literaturfestival" (PalFest) werden immer bedeutsamer.
Im Kapitel "Introducing the Israelis" ("Vorstellung der Israelis") zeigt Diab anhand einiger Interviews die Verschiedenheit der israelischen Gesellschaft auf. So notiert er: "Israel ist ein lebendes Laboratorium, ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen und Ideologien", und untersucht, was es bedeutet, Israeli zu sein.
Verschwommene Identitäten
Diab schreibt, dass die Identitäten von Arabern und Juden zwar sehr unterschiedlich wahrgenommen werden können, es aber "eine Vielzahl von Gruppen und Gemeinschaften gibt, die den Abgrund des Konflikts überschreiten, deren Identitäten unklar sind und die sich im Niemandsland zwischen den tief verwurzelten kulturellen Strömungen beider Seiten befinden".
Insbesondere gehören dazu die Mizrahi-Juden aus arabischen oder anderen Ländern des Mittleren Ostens sowie die Palästinenser und andere arabische Bürger aus Israel. Zusammen stellen sie etwa siebzig Prozent der israelischen Bevölkerung dar, die zu etwa fünfzig Prozent mizrahi-jüdisch und zu zwanzig Prozent arabisch geprägt ist.
Laut Diab haben diese beiden Gruppen viele Gemeinsamkeiten. Doch er räumt auch ein, dass sie in den letzten Jahrzehnten fast nie gemeinsam paktiert hätten. "Bis jetzt sind sie trotz ihres enormen Potenzials, Brücken zu bauen und Identitäten verschwimmen zu lassen, dazu gezwungen, auf der jeweils anderen Seite eines immer breiteren Grabens zu stehen", so Diab.
Mit Blick in die Zukunft äußert sich Diab kritisch über die "Zweistaatenlösung". Dieses Modell habe angesichts der wachsenden israelisch-jüdischen Siedlungen den Wettstreit um Lebensraum klar verloren. Und was die "Einstaatenlösung" betrifft, leben Palästinenser und Israelis zwar de facto in einem – wenn auch weitgehend geteilten – gemeinsamen Staat, aber nur wenige Israelis würden dies wirklich zugeben.
Auf dem Weg zur "Nullstaatenlösung"
Diab schlägt einen Weg vor, um beide Lösungsmodelle miteinander in Einklang zu bringen, "einen einzelnen Staat mit allen nationalen Eigenschaften zu etablieren – einen föderalistischen oder gemeinschaftlichen Staat". Er glaubt, dass eine solche Variante durchaus auch vom "belgischen Modell" inspiriert sein könnte.
In der Zwischenzeit muss es aber anderweitige Lösungen geben, und Diab schlägt daher etwas vor, was er auch die "Nullstaatenlösung" nennt. Statt sich weiterhin auf Grenzen oder Territorien zu fixieren, "als sei Boden so viel dicker als Blut", müsse sich der Schwerpunkt auf die Menschen verlagern. Diese Priorisierung der Menschen setze voraus, dass sich der palästinensische Kampf in eine gewaltfreie, massenhafte Bürgerrechtsbewegung verwandle, der sich dann auch immer mehr israelische Sympathisanten anschließen könnten.
"Was auch immer das Ziel ist: Frieden wird nur entstehen, wenn die Menschen höheres Ansehen genießen als das jeweilige Land, um da sie ringen. Und wenn die Menschen die Fähigkeit erlangen, einen Frieden der Menschen durch Menschen für Menschen zu schaffen", betont Diab.
Susannah Tarbush
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff