Der Haudegen der Cyrenaika gegen den politischen Islam

Während seine Anhänger den mächtigen libyschen General Haftar als "Erretter Libyens" feiern, verteufeln ihn seine islamistischen Widersacher als "neuen Gaddafi", der eine Konterrevolution gegen die "Revolution des 17. Februars" und die international anerkannte Regierung in Tripolis anführt. Von Faraj Alasha

Von Faraj Alasha

Die Nachricht, dass General Khalifa Haftar am 5. April 2018 in ein Militärkrankenhaus in Paris eingeliefert werden musste, um sich der Behandlung eines schwerwiegenden gesundheitlichen Problems zu unterziehen, hatte unterschiedliche Reaktionen und Spekulationen in Libyen hervorgerufen. Haftars Unterstützer reagierten geschockt und besorgt, während im Lager seiner islamistischen Gegenspieler Freude ausbrach: Ihre Satellitenkanäle in Doha und Istanbul kolportierten eine vermeintlich bestätigte Nachricht seines Todes von anderen arabischen und internationalen Medien, darunter die für ihren seriösen Journalismus bekannte französische Zeitung Le Monde. Aber nur einige Tage später gab der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian bekannt, dass sich der Gesundheitszustand Haftars verbessert hätte. 

Die umstrittenste Persönlichkeit Libyens

Wer also ist dieser General, dessen Erkrankung die arabischen und internationalen Medien und Politikkreise derart beschäftigten? Seit er in der Cyrenaika im Osten Libyens unter dem Namen "Operation Würde" eine militärische Kampagne gegen islamistisch geprägte und als terroristisch beschriebene Milizen führte, ist er die umstrittenste Persönlichkeit Libyens geworden.

Khalifa Belqasim Haftar wurde 1943 in der Stadt Adschdabiya westlich von Bengasi geboren. 1966 schloss er seine Ausbildung an der königlichen Militärakademie ab und nahm als Oberleutnant im September 1969 am Putsch Gaddafis gegen das damalige Königshaus teil. 1980 wurde er in den Rang eines Obersts befördert und zu einem Befehlshaber der Landstreitkräfte ernannt.

Mit dem Ziel einen Regimewechsel herbeizuführen, führte Haftar 1987 unter dem Befehl des Diktators Gaddafi eine großangelegte Militäroffensive gegen den Tschad. Sie endete jedoch in einer schweren Niederlage für die libysche Armee und Haftar geriet zusammen mit Hunderten seiner Offiziere und Soldaten in Gefangenschaft der Streitkräfte des Tschad.

General Khalifa Haftar; Foto: picture-alliance/AP
خصم لحكومة الوفاق الوطني: نقلت وكالة الأنباء رويترز أن حفتر -الذي كان حليفا سابقا للقذافي قبل أن يختلف معه ويعود إلى ليبيا خلال الثورة- يقود أحد تحالفين فضفاضين بدآ التصارع على السلطة عام 2014. وسيطر منافسوه في فصيل فجر ليبيا المقرب من الإسلاميين على طرابلس في ذلك العام لكن حدثت به انشقاقات لاحقا وتغير موقفه إلى تأييد حكومة الوفاق الوطني التي انتقلت إلى العاصمة طرابلس والمدعومة من الأمم المتحدة. ويرفض حفتر وبرلمان وحكومة الشرق اللذان يدعمانه تأييد حكومة الوحدة الوطنية وأصبحوا أكثر ثقة، في الوقت الذي تواجه فيه حكومة الوفاق مصاعب.

Nachdem die Vereinigten Staaten beim Präsidenten des Tschad und seinen französischen Verbündeten interveniert hatten, wurden die libyschen Kriegsgefangenen vor die Wahl gestellt, in ihre Heimat zurückzukehren oder in die USA überzusiedeln. Nur ein Bruchteil von ihnen entschied sich für die Rückkehr nach Libyen, der Großteil zog hingegen die Vereinigten Staaten vor. So auch Haftar, der sich in Virginia niederließ.

Dort schloss er sich der libyschen Opposition unter der Führung der "Nationalen Front für die Rettung Libyens" an und bekleidete in dieser das Amt des "Befehlshabers der Nationalarmee". Von seinem Exil aus plante er im Geheimen zusammen mit hochrangigen Offizieren innerhalb Libyens einen Militärputsch.

Einige Tage vor seiner geplanten Durchführung im Oktober 1993 wurde der geplante Staatsstreich allerdings aufgedeckt und seine Drahtzieher inhaftiert. Es scheint, als habe sich Haftar infolge des gescheiterten Putschversuchs und seiner Differenzen mit der oppositionellen "Nationalen Front zur Rettung Libyens" von dieser abgewandt und sich auf eine durch Ägypten vermittelte Aussöhnung mit dem libyschen Regime eingelassen. Unter der Bedingung, jegliche politische Oppositionsarbeit gegen das Regime Gaddafis zu unterlassen, gewährte der Deal General Haftar und seiner Familie die Möglichkeit, sich in Ägypten niederzulassen.

Vom fiktiven "Cyber-Putsch" zum Anführer militärischer Operationen

Nachdem der Aufstand des 17. Februar 2011 ausbrach, sich schnell in eine bewaffnete Revolution gegen das Gaddafi-Regime verwandelte und Hosni Mubarak in Ägypten bereits gefallen war, kam Haftar über den Landweg nach Bengasi, wo er auf General Abd al-Fattah Yunis traf. Der ehemalige Innenminister Gaddafis hatte sich in der Zwischenzeit vom Regime distanziert und befehligte nun die aus Soldaten und freiwilligen Zivilisten bestehenden Rebellentruppen.

Die beiden Militärs gerieten schließlich in einen heftigen persönlichen Streit über den künftigen militärischen Führungsanspruch. In der Folge wurde Haftar von jeglichen leitenden militärischen Aufgaben entbunden.

Islamistische Milizen bei Feuergefechten in Bengasi; Foto: dpa/picture-alliance
إسلاميون سلفيون (أتباع المذهب المدخلي) معادون بشراسة للإخوان المسلمين والجماعات الجهادية وموالون للسلطان في صف الجنرال الليبي خليفة حفتر: يرى فرج العشة أن "هزيمة الإسلاميين في ليبيا في الانتخابات البرلمانية 2014 ألجأتهم إلى فرض وجودهم السياسي السلطوي بقوة السلاح في مواجهة ما تبقى من قوات الجيش النظامي التي يقودها الجنرال خليفة حفتر مدعوماً بمقاتلين مدنيين مساندين بمن فيهم إسلاميون سلفيون (أتباع المذهب المدخلي) معادون بشراسة للإخوان المسلمين والجماعات الجهادية".

Doch dann tauchte er plötzlich am Abend des 14. Februar 2014 auf dem Bildschirm des saudischen Senders Al-Arabiya auf. Dort gab Haftar in einer aufgezeichneten Putscherklärung bekannt, dass seine Truppen die Kontrolle über militärische Einrichtungen und strategisch wichtige Punkte in der Hauptstadt Tripolis übernommen hätten und erklärte die Arbeit des Parlaments und der Regierung für ausgesetzt. Er legte eine "Roadmap" für die politische Zukunft Libyens vor, ganz so, als wolle er das Vorgehen Al-Sisis in Ägypten wiederholen, allerdings ohne wie dieser über eine starke, vereinte und disziplinierte Armee zu verfügen.

Haftars Putscherklärung war reine Fiktion – ein Staatsstreich, der auf die mediale Sphäre beschränkt blieb, denn tatsächlich hatte er gar keine Truppen unter seinem Befehl, nachdem die Sintan-Brigaden auf die er gesetzt hatte, ihn im Stich gelassen hatten.

Aber Haftar gab nicht auf. Drei Monate später, im Mai 2014, startete er die sogenannte "Operation Würde" mit nur wenigen hundert Männern der libyschen Armee eine Offensive gegen die bewaffneten islamistischen Gruppierungen, die Bengasi kontrollierten. Ein Großteil der Bewohner der Stadt betrachtete diese Gruppen als Terroristen und machte sie verantwortlich für hunderte von Mordanschlägen auf Angehörige des Militärs, der Polizei und zivilgesellschaftliche Aktivisten in der Stadt.

Schnell schlossen sich immer mehr Soldaten und Freiwillige der "Operation Würde" an und Haftar wurde in den Augen der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit, zumindest im Osten des Landes, zum herbeigesehnten Retter.

Auf Druck seiner Anhänger im Parlament, der Stammesoberhäupter und anderer einflussreicher Personen sowie durch die Unterstützung der Regionalkommandeure, ernannte ihn der Präsident des Parlaments in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu deren Oberkommandeur und erhob ihn zuerst in den Rang eines Generalleutnants und später sogar eines Feldmarschalls.

Auf der anderen Seite verbündeten sich in Tripolis und Misrata im Westen des Landes islamistische Milizen, um die Offensive Haftars zu stoppen, die mit Hilfe Ägyptens und der Emirate die islamistischen Milizen, mit Ausnahme ihres unbedeutenden Rückzugsortes in der Kleinstadt Derna, erfolgreich aus Bengasi und der gesamten Cyrenaika vertrieben hatte.

Den politischen Islam durch das Militär stoppen

Haftars Truppen erlangten die Kontrolle über die Ölhäfen und er selbst entwickelte sich in den Worten der französischen Zeitung Le Monde zum "starken Mann der Cyrenaika". Haftar arbeitete aber auch daran, der "starke Mann Libyens" zu werden, sobald das Militär wieder vereint und die Hauptstadt Tripolis mittels eines Übergangsmilitärrates, der eine neue politische Transformationsphase beaufsichtigen soll, unter Kontrolle gebracht worden ist.

Aber seine plötzliche Erkrankung und das Stillschweigen über seinen gesundheitlichen Zustand führten in der libyschen Öffentlichkeit zu Fragen und Kontroversen darüber, wie es weitergeht mit seiner militärischen Kampagne "Operation Würde", die das politische Projekt zur Erlangung der Herrschaft über Libyen flankiert.

Einheiten der Nationalen Libyschen Armee (ANL) von General Haftar im September 2017 in Bengasi; Foto: Getty Images/AFP
Haftars Truppen unter Verdacht: Der selbsternannten Nationalen Libyschen Armee (ANL) von General Haftar wird vorgeworfen, in den vergangenen Jahren immer wieder gefangen genommene Dschihadisten getötet zu haben. Im August hatte der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Kommandeur eines Spezialkommandos der ANL erlassen. Mahmoud Al-Werfalli soll 2016 und 2017 mindestens sieben Mal auf Zivilisten oder verletzte Kämpfer geschossen oder deren Hinrichtung angeordnet haben. Haftars Truppe teilte daraufhin mit, der Beschuldigte sei bereits festgenommen worden und komme vor ein Militärgericht.

Es stellt sich zudem die Frage, ob seine internationalen Partner wie Ägypten, die Vereinten Arabischen Emirate (VAE) und Frankreich auch einen potenziellen Nachfolger Haftars unterstützen würden. Und wer könnte überhaupt dieser Nachfolger sein?

Es scheint offensichtlich, dass sein Verschwinden von der politischen Bühne eine Schwachstelle im Gefüge der zentralen Führungsfiguren des Oberkommandos der Armee hinterlassen würde. Das liegt zum einen an seiner äußerst charismatischen Persönlichkeit und seinen engen Beziehungen zu seinen regionalen (Ägypten, VAE) und internationalen Partnern (Frankreich und Russland).

Zum anderen wäre sein militärisches Projekt "Operation Würde", also der Versuch, den Terrorismus zu bekämpfen und dem politischen Islam Einhalt zu gebieten, indem das wiedervereinte Militär seine Kontrolle über das Land verstärkt, ohne Haftar nicht mehr, was es mit ihm war. Denn es ist ein Projekt, das seine Anhänger und seine Widersacher gleichermaßen mit der Person Haftars verbinden.

Libyens Erretter oder neuer Gaddafi?

Während seine Anhänger ihn in einem Maß als "Erretter" idealisieren, das an Personenkult grenzt, verteufeln ihn seine islamistischen Widersacher als "neuen Gaddafi", der eine Konterrevolution gegen die "Revolution des 17. Februars" anführt. Sie sehen sich als deren wahre Revolutionäre, die im Auftrag Gottes handeln. Und sie gehen davon aus, dass ein umfassender politischer Konsens, der ihnen den Löwenanteil der Macht sichert, ohne den mächtigen General schneller erreicht werden kann.

Im Lager des Generals gibt es hingegen ernsthafte Befürchtungen, dass es zwischen der militärischen Führung im Osten und der im Süden des Landes zu Auseinandersetzungen über das Anrecht auf die Nachfolge Haftars kommen könnte. Darüber hinaus zirkulieren Nachrichten über eine ägyptisch-emiratische Intervention mit dem Ziel, eine für sie zufriedenstellende Nachfolge für Haftar zu installieren.

Auch wenn es im Zuge des Kampfes um die Nachfolge Haftars zu bewaffneten Konfrontationen und vereinzelten Mordanschlägen zwischen den Parteien kommen könnte, wird sich die Situation unter keinen Umständen zu einem komplizierten militärischen Großkonflikt im tribalen Kontext zuspitzen. Dafür zeichnet sich das soziale Gefüge der Stämme in der Cyrenaika seit jeher zu sehr durch großen Zusammenhalt aus. Außerdem verachten sie die islamistischen Gruppierungen wegen ihrer Terroranschläge und ihren Griff nach der Alleinherrschaft. Sofern Haftar nicht zurückkehrt, wird wohl ein neuer Befehlshaber für die Armee ernannt werden, abgesegnet durch das Parlament in Tobruk. Dann steht der Kampf um Derna und die Befreiung der Stadt von den letzten Überresten der islamistischen Milizen im Osten des Landes bevor.

Faraj Alasha

© Qantara.de 2018

Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne

Der libysche Publizist und Schriftsteller Faraj Alasha lebt in Bengasi.