Die Wahl zwischen Pest und Cholera
Wie sich der Konflikt in Libyen lösen lässt, bleibt eine der schwierigsten und wohl auch wichtigsten Fragen, mit denen politische Entscheidungsträger heute konfrontiert sind. Seit dem Sturz des ehemaligen libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 steckt das Land in einer chronischen Krise.
Abgesehen von den humanitären Kosten der anhaltenden Auseinandersetzungen befeuert der illegale Handel mit erbeuteten Waffen Konflikte auf dem gesamten Kontinent. Zudem nährt die Nähe Libyens zu Europa Befürchtungen über wachsende Zuwanderungsströme, während die libyschen Verbindungen zum Bomber von Manchester ein Schlaglicht auf die Rolle des Landes als Keimzelle des Extremismus werfen. Thomas Waldhauser, Befehlshaber des Afrikanischen Kommandos der Vereinigten Staaten (AFRICOM), erklärte erst kürzlich: "Die Instabilität in Libyen und Nordafrika hat das Zeug dazu, die Interessen der USA und ihrer Verbündeten auf dem Kontinent erheblich und unmittelbar zu bedrohen."
Ein extern angeheizter Konflikt
Ausländische Interventionen scheinen die Zersplitterung des Landes wohl noch unbeabsichtigt zu verschärfen. Daher verwundert es nicht, dass viele westliche Länder nach dem offiziellen Ende der NATO-Mission im Oktober 2011 ihre militärischen Operationen im Land stillschweigend fortgesetzt haben. Ihre Interessen und Motive – insbesondere ihre vermeintliche Konzentration auf die Bekämpfung des Terrorismus und weniger auf die Stabilisierung des Landes – gaben jedoch Anlass zu Auseinandersetzungen.
Es gibt Hinweise darauf, dass die USA, Frankreich, Italien und Großbritannien weiterhin Sondereinheiten vor Ort haben oder hatten, während sie sich gleichzeitig auf diplomatischen Wegen um Unterstützung der "Regierung der Nationalen Einheit" bemühten, die mit der Absicht gegründet wurde, in Libyen ein Konsensgremium zu schaffen.
Doch das Bestreben gilt heute als gescheitert. Das politische Wirken des Gremiums erreichte seinen Höhepunkt 2015, als der sogenannte "Islamische Staat" (IS) die Küstenstadt Sirte zu seinem libyschen Hauptsitz erklärte – knapp 650 km vor der Küste Italiens. Gegenwärtig wird es von einer Gegenregierung in Frage gestellt, die die mit Hilfe der selbst ernannten "Nationalen Libyschen Armee" im Osten von Libyen herrscht.
Während Chaos und Spaltung im Land weiter zunehmen, scheinen ausländische Interventionen die Konflikte vor Ort unbeabsichtigt weiter anzuheizen und die ohnehin schon komplexe Lage durch weiteren Dissens und ein gesteigertes Misstrauen zu destabilisieren.
Während die Intervention von 2011 zum Sturz Gaddafis noch auf eine gewisse lokale Akzeptanz bauen konnte, haben die nachfolgenden ausländischen Interventionen zu scharfen Reaktionen innerhalb Libyens geführt. So gingen beispielsweise im Juli 2016, nachdem bekannt wurde, dass französische Spezialeinheiten im Osten des Landes operierten, hunderte Libyer in Tripolis und in westlichen Städte auf die Straße, um gegen die ausländische Beteiligung zu demonstrieren. Auf ihren Plakaten forderten sie: "Hände weg von Libyen!" und "Keine französische Intervention!".
Wer eingreift, ist der Dumme
Im Rahmen meiner eigenen Nachforschungen äußerten sich viele libysche Befragte besorgt über die externen Einmischungen in ihrem Land. Viele unterstellten den internationalen Akteuren eine eigene Agenda. "Jeder weiß, dass die internationale Gemeinschaft nicht aus edlen Motiven eingreift", so fasst eine von mir befragte Person die mehrheitliche Stimmung zusammen. "Sie wollen den Konflikt absichtlich verlängern, um daraus ihren eigenen Nutzen zu ziehen."
Trotz des verdeckten Charakters der Interventionen in Libyen geraten die internationalen Akteure allerdings zunehmend öffentlich in die Kritik. Großbritannien zählt zwar zu den verschwiegensten Akteuren der Region und konnte derartige Massenproteste wie die gegen Frankreich vermeiden, dennoch nimmt die Kritik an der zwielichtigen Rolle Großbritanniens weiter verloren.
Während einige Libyer die britische Unterstützung gegen den IS begrüßen, insbesondere angesichts der Unfähigkeit Libyens, das Problem allein zu bewältigen, beurteilen andere die Anwesenheit der Briten weitaus skeptischer. So äußern viele Libyer Zweifel an den hehren Absichten Großbritanniens, nach dem Motto: "Die Briten werden von ihren eigenen Interessen getrieben. In solchen Fällen gibt es normalerweise keinen Platz für jegliche moralische Vorstellungen und Werte."
Die wirklichen Ziele hätten zudem mehr mit dem Zugriff auf Libyens Reichtum und Ressourcen zu tun. "Die internationale Gemeinschaft verhält sich gegenüber Libyen arglistig. Denn es geht ihr gar nicht um den Schutz der Zivilisten vor dem IS. Vielmehr versucht sie, die Oberhand über die Ressourcen in Sirte zu gewinnen", urteilte ein befragter Libyer.
Die jüngsten Äußerungen des britischen Außenministers Boris Johnson, der bei einem Treffen am Rande des Parteitags der Konservativen im Oktober 2017 erklärte, Sirte könne das nächste Dubai werden, sobald man "die Leichen weggeräumt" habe, untermauerten diesen Verdacht noch.
Großbritannien ist aufgrund seiner Intervention unweigerlich in die komplexen lokalen Machtkämpfe eingebunden, die Libyen zu zerreißen drohen. So unterstützten die Briten die Regierung der Nationalen Einheit im Kampf gegen den IS in Sirte und erweckten damit den Eindruck, in diesem Konflikt eine Seite auf Kosten anderer zu unterstützen.
In den Augen vieler Libyer bleibt die "Regierung der Nationalen Einheit" ein illegitimes Gremium. Sie war zwar als Konsensregierung konzipiert, wurde aber von einigen wichtigen lokalen Kräften abgelehnt und konnte die ihr zugedachte Rolle daher niemals ausfüllen. Sie wurde auch nie offiziell vom gewählten libyschen Parlament, dem Abgeordnetenrat, anerkannt.
Großbritannien agierte jedoch stets durch "Regierung der Nationalen Einheit" und die sie unterstützenden Kräfte, was von Teilen der Libyer als bewusste Einflussnahme auf bestimmte Elemente des libyschen Konflikts ausgelegt wurde.
Lokale Machthaber konnten ausländische Interventionen dazu nutzen, ihre Gegner zu diskreditieren, indem sie sich gegenseitig beschuldigten, die nationale Souveränität zu ihrem eigenen Vorteil ausverkauft zu haben. So erklärte einer meiner libyschen Interviewpartner: "Unser Problem ist, dass die Angehörigen der politischen Klasse um die Macht ringen. Sie ermächtigen sich selbst durch Rückgriff auf die Unterstützung durch ausländische Akteure."
Und wer nicht eingreift, ist ebenfalls der Dumme
Trotz der ablehnenden Haltung gegenüber ausländischen Interventionen sind viele Libyer darüber verbittert, dass man sie nach dem Sturz Gaddafis einfach ihrem Schicksal überlassen hat. In Libyen ist internationale Unterstützung durchaus erwünscht, sofern sie Libyen als Ganzes dient und sich nicht nur auf die Bekämpfung von Terrorgruppen, wie beispielsweise den IS, oder auf die Bewältigung der Flüchtlingskrise konzentriert.
Einer meiner Interviewpartner erinnerte sich beispielsweise daran, dass die internationale Gemeinschaft "das Land im Chaos und Bürgerkrieg zurückließ". Und der Journalist Jalal Othman erklärte: "Nachdem man [Gaddafi] los war, überließ die internationale Gemeinschaft Libyen dem eigenen Schicksal. Nicht selten zogen die Panzer von einer Stadt zur nächsten. Die internationale Gemeinschaft wusste das, unternahm dagegen aber nichts."
In Libyen haben sich daher starke Ressentiments entwickelt. Man wirft der internationalen Gemeinschaft vor, Libyen der Willkür regionaler Akteure überlassen zu haben. Viele verweisen dabei auf die Rolle Ägyptens, der Vereinigten Arabischen Emirate, Jordaniens, Qatars und der Türkei, die alle ihren Teil zum Konflikt in Libyen beigetragen haben, indem sie verschiedene Fraktionen auf Kosten von Frieden und Stabilität unterstützten.
Und tatsächlich deckten Qatar und die Türkei die Lager in Tripolis und Misrata, während Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate fest hinter General Chalifa Haftar standen und ihm politische sowie militärische Hilfe leisteten.
Gibt es einen Ausweg aus der Zwickmühle?
In Libyen mehren sich die Stimmen, die behaupten, das Land sei einer Welle von Einmischungen und halbherzigen Interventionen ausgesetzt, bei denen nie die eigentlichen Interessen Libyens im Mittelpunkt standen.
Dieser Standpunkt wird noch verschärft durch die oft diffusen Absichten der beteiligten Länder. Unklarheit und fehlende Transparenz erzeugen Gerüchte und schüren Schuldzuweisungen. Sie ziehen die Akteure von außen in die lokale Dynamik des Konflikts hinein und machen es unmöglich, als unpolitischer oder unparteiischer Akteur wahrgenommen zu werden.
Das untergräbt letztlich alle diplomatischen Anstrengungen. Im Falle der "Regierung der Nationalen Einheit" stärkte die internationale Intervention sogar noch die gängige Auffassung, es handele sich bei diesem Gremium um eine Marionettenregierung, die von externen Mächten installiert wurde und einer außenpolitischen Agenda diene. Solche Anschuldigungen trugen deutlich zur Schwächung und Deligitimierung der Regierung bei.
Alison Pargeter
© OpenDemocracy 2017
Alison Pargeter ist Expertin für Nordafrika und den Nahen Osten mit besonderem Schwerpunkt auf Libyen, Tunesien und den Irak sowie auf politische islamistische Bewegungen. Ihr neuestes Buch trägt den Titel “Return to the Shadows: The Muslim Brotherhood and An-Nahda since the Arab Spring“.
Aus dem Englischen von Peter Lammers