Die neuen Wege der Meisterkinder
Kaum ein Land des Mittleren Ostens ist so stolz auf die eigene Musiktradition wie der Iran. Und kaum woanders nehmen die Stimmen der großen klassischen Sänger einen so festen Platz im Hörverhalten der Bevölkerung ein. Wer in Teheran in eines der beliebten Sammeltaxis steigt, hat gute Chancen, dass gerade ein traditionelles Gesangsstück aus dem Autoradio klingt.
Die großen und verehrten Namen unter den klassischen Sängern Irans sind über Jahrzehnte praktisch die gleichen geblieben – wie etwa Mohammad Reza Shajarian, Shahram Nazeri und Ali Reza Eftekhari. Ihre Stimmen haben sich eingeprägt und sind für viele Iraner, vor allem der älteren Generation, Träger von einschneidenden Erinnerungen – ob persönlich, historisch oder politisch.
Veränderung innerhalb eines festen Rahmens
Der iranische Gesang basiert auf dem traditionellen Dastgah-Tonsystem, das diverse Gruppen von Tonleitern und Melodiegruppen umfasst. Zum ersten Mal wurde dieses System, auf dem die persische Klassik fußt, Ende des 19. Jahrhunderts systematisiert. Seitdem kamen zwar neue Elemente hinzu, jedoch stets innerhalb eines festgesteckten Rahmens. Genau wie die persische Dichtung, die sich bis zum Aufkommen des she'r-e no (moderne Lyrik) im 20. Jahrhundert an strengen Regeln orientierte, galt die klassische persische Musik unter Sängern und Instrumentalisten lange Zeit als unantastbar.
Daneben entwickelte sich im Iran vor der Islamischen Revolution von 1979 analog zum Westen die persische Pop- und Rock-Musik. So sind etwa die Lieder Kourosh Yaghmaeis, Pionier des persischen Rocks aus den siebziger Jahren, stilistisch nicht von amerikanischen Songs der gleichen Zeit zu unterscheiden. Die Zusammenführung von traditioneller und populärer Musik dagegen ist ein relativ neues Phänomen in der iranischen Musik.
Homayoun Shajarian, Sohn des Großmeisters des persischen Gesangs Mohammad Reza Shajarian, ist in den letzten Jahren durch seine Experimente mit Pop-Elementen hervorgetreten. Als musikalisches Ziehkind seines berühmten Vaters gehört Homayoun zu jener Generation von Söhnen großer ostads, die sich in neue musikalische Bereiche vorgewagt haben.
Seit seinem ersten Solo-Album vor zwölf Jahren hat Homayoun eine große Beliebtheit im Iran gewonnen, die fast schon an die seines Vaters heranreicht. Homayouns Repertoire umfasst die klassische Bandbreite der Musik seines Vaters ebenso wie Elemente der Popularmusik. Wenn jedoch Vater und Sohn in Konzerten gemeinsam sangen, so wie im berühmten "Konzert für Bam" (2003), waren ihre Stimmen kaum voneinander zu unterscheiden.
Homayouns 2014 veröffentlichtes Album Na fereshte-am na sheytan (Weder Engel, noch Teufel) wurde im Iran zu einem Bestseller, auch wegen seiner vielen Pop-Elemente. Die weichen Klänge von Piano, Streicher und Synthesizer, das Hintergrundrauschen von Wasser oder die Schlagzeug-Beats vermischen sich auf der CD mit traditionellen Gesangslinien und Rhythmen.
Auch der Komponist der acht Tracks auf dem Album, Tahmoures Pournazeri, ist Spross einer namhaften kurdisch-iranischen Musikerfamilie. Die Pournazeris sind bekannt für das von ihnen gegründete „Shams-Ensemble”, das sich seit 1980 der mystischen Musik, insbesondere den Gedichten Rumis und dem Spiel der kurdischen Langhalslaute Tanbur, widmet.
Vom "Ghazal" zur Rock-Ballade
Homayouns letzte Zusammenarbeit mit dem jüngeren Pournazeri-Sohn Sohrab Pournazeri sorgte für einiges Aufsehen. In dem von Sohrab Pournazeri komponierten Lied Arayesh-e Ghaliz (Kräftiges Makeup) verwandelte Homayoun ein berühmtes und vielfach intoniertes Ghazal von Rumi in eine rasante Rock-Ballade. Die treibenden Rhythmen von E-Gitarre und Schlagzeug bilden mit den emotionalen Vibrati des klassisch-persischen Gesangs eine seltsame Mischung. Und das, wo doch der klassische Gesang eigentlich von seinem langsamen und getragenen Charakter lebt.
Einige kritisierten den Song Auch als "Verhunzung" der Klassik, andere bemängelten die Oberflächlichkeit der Musik. Wiederum andere feierten ihn als mutigen Hit. Für Hossein Vali, Teheraner Komponist und Setar- und Tarspieler, fehlt es in der verpoppten Klassik dieser Tage an Gefühl und Kreativität. "Man muss die Sänger der neuen Generation an der Originalität ihrer Musik messen. Und darum war es in den letzten Jahren schlecht bestellt”, sagt Vali. "Viele von ihnen profitieren schlichtweg von der Popularität ihrer Väter und bedienen den Massengeschmack, der ihnen am meisten Verkäufe einbringt."
Auch Hafez Nazeri, Sohn des beliebten iranischen Sängers Shahram Nazeri, den die New York Times als "persische Nachtigall" bezeichnete, entfernte sich mit seinen Kompositionen vom Gesang des Vaters. Im "Rumi Symphony Project", einer Fusion von iranischer und westlicher Klassik, versuchte Nazeri, den Gedichten Rumis eine neue musikalische Farbe zu verleihen. Kritik bekam er vor allem wegen seiner großflächigen Werbekampagnen für das Projekt und für den manchmal allzu seichten Charakter der Musik.
Innovation oder Verflachung?
So ist die Gratwanderung zwischen Innovation und Veränderung auf der einen Seite und Anpassung und Verflachung der persischen Musiktradition auf der anderen Seite eine der wichtigen kulturellen Fragen des Irans. Die Klassik spielt zwar für den iranischen Musikliebhaber nach wie vor eine große Rolle. Doch mehr noch als vom Geschmack der Zuhörer hängt die Zukunft der traditionellen Musik von der Qualität des Musikernachwuchses ab.
Die unumstrittene Autorität der persischen Klassik, Mohammad Reza Shajarian, hat sich jedenfalls mehrfach lobend zur Musik seines Sohnes Homayoun geäußert. In den letzten Jahrzehnten seiner Karriere hat es sich Shajarian senior zur Lebensaufgabe gemacht, talentierte junge Musiker zu fördern und auszubilden – auch im Alter von 75 Jahren.
In einem Interview sagte Shajarian einmal: "Lasst uns an die Fähigkeit und Talente der jungen Menschen glauben und den Weg dazu bereiten, dass diese angesammelten Kräfte in ihnen freigesetzt werden können."
Marian Brehmer
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